ERBSCHAFTEN

- Lektüre -

  Stahl und Kohle sind nicht einfach Stoffe, sondern ebenso sehr auch Symbole für Regionen, deren Industriegeschichte maßgeblich von ihnen geprägt wurde. Umgekehrt wird auch der einfache Name für die Region, wie etwa „Ruhrgebiet“, selbst zum Symbol für Industriebranchen, die man nicht ohne weiteres mit anderen Regionen in Verbindung bringen würde.
  Obwohl dies längst, wenn auch noch zeitlich nahe Historie ist, befindet man sich inmitten einer höchst wirksamen Magie der Symbolik, deren Kraft stets von der als unzertrennlich angesehenen Verbindung zwischen Name, Bild und Sinn lebt. Ich selbst stamme aus dem Ruhrgebiet, aus Dortmund, und stelle mir die Frage, wie weit meine eigene Biographie mit magnetischen Fäden dieser Symbolik durchzogen wird, die in zuverlässiger Kontinuität das Interesse und die Aufmerksamkeit für bestimmte Objekte nähren, die in Zusammenhang damit stehen.
  Ich gebe zu, dass mir dieser Gedanke sympathisch ist. Wenn die Einstellung des Blicks justiert wird durch den Sog, den Symbole entfalten, dann ist er mehr als physische Mechanik, sondern angereichert mit historisch geprägter Phantasie. Es gibt keine Symbolik ohne Imagination, dieser Schwester der Poesie, und es gibt auch keine Poesie ohne Erfahrung.
 
  Gibt es eine Poesie der Industrieruine? Wenn von ihr eine Attraktivität für den Blick ausgeht, dann kann sich auch eine poetische Aura entfalten, ohne die es keinen Reiz für das Spiel der Phantasie gibt. Zudem hängt alles davon ab, ob eine Lektüre derartiger Objekte lohnenswert erscheint. Zweifellos braucht man dazu auch die Energien der Reflexion, ohne die der Zauber der Poesie rasch verblasst. Das Zusammenwirken und die Durchdringung sinnlicher und geistiger Vermögen haben der Erlangung gehaltvoller Erkenntnisse noch nie geschadet, im Gegenteil.
  Ich treffe also auf eine komplexe Situation, die mir sicherlich auch bei anderen Objekten meines Interesses begegnet. Dennoch stelle ich mir die Frage, warum mir gerade die Begegnung mit den Ruinen der Schwerindustrie, die als neue zeitgenössische Kulturikonen das Ruhrgebiet von Duisburg bis Hamm durchziehen, eine Lehre über die Synergie von Sinnen und Geist zu erteilen vermag und eine höchst prominente Lust am Verstehen entfesselt, die mir in meiner fotografischen und schriftstellerischen Arbeit so nicht alle Tage unterkommt.
  An diesen Orten handelt es sich um Dinge, die bei mir von Beginn an eine rege geistige Neugier auslösten, die sehr wohl ihren Ausgang von der sinnlichen Darbietung nahm, sich darin aber nicht erschöpfen wollte. So sehe ich mich gleichsam in der Situation, in der sich die Menschen befanden, wenn der Götterbote Hermes ihnen Botschaften überbrachte. Selbst wenn sie die Bedeutung der ihnen vertrauten Worte kennen, haben sie noch nicht den Sinn der Botschaft verstanden. Dazu muss allererst ihr Zuhören zum Lesen, ihr Vernehmen zum Interpretieren werden.
 
  In dem Moment aber, wo ich fotografiere, lese ich nicht. Mein Blick ist voll und ganz damit beschäftigt, die Oberfläche des Objekts abzutasten und mein bildliches Kalkül sucht nach einer treffenden Komposition des Bildes, das am Ende dabei herauskommen soll. Die Lektüre hat vorher stattgefunden und ihre Ergebnisse liefern Nahrung für den Blick. Danach mache ich eine neuerliche Lektüre, dieses Mal eine des entstandenen Bildes.
  So vielfältig sich beide Lesungen überlappen und durchdringen, so unüberbrückbar bleibt die Wahrnehmung des Objekts von der des Bildes verschieden. Und doch führt mich die eigene Logik des fotografischen Bildes immer wieder zurück zur Lektüre des Objekts, dem es seine Entstehung verdankt. So ist es immer, wenn die Fotografie die Spur des Realen ist und sich an dessen Erscheinungen, und nicht an Trugbildern orientiert.
 
  Das Ruhrgebiet ist meine Heimat, je älter ich werde, umso klarer wird mir das. Ich hatte lange Zeit eine Scheu vor all den Gefühlen, die mit der Vorstellung verbunden waren, dass es Orte gibt, an denen sich aufzuhalten mit einer besonders lebhaften emotionalen Qualität verbunden sein könnte. Heute weiß ich, dass es so etwas gibt.
  Seitdem ich fotografiere, kommen mir weitaus häufiger als zuvor Bilder aus der Kindheit in Erinnerung, die ich lange Zeit vergessen oder sogar verdrängt hatte, aus welchen Gründen auch immer.
  Ich wurde als kleiner Junge oftmals von meinen Eltern mitgenommen, um meinen Onkel mütterlicherseits, der wie alle Männer aus dieser Linie Bergmann war, nach der Schicht am Zechentor abzuholen.  
  Vielleicht ist es kein Zufall, dass mein Gedächtnis in Schwarzweißtönen gehalten ist. An farbgeprägte Taghelle jedenfalls, zu deren Zeit man mich wohl auch mitgenommen haben mag, habe ich keine Erinnerung, sehr wohl aber an Szenen in der Dunkelheit mit harten Kontrasten zwischen undurchdringlichem Schwarz, grellem Scheinwerferlicht und schmutzigen Weißtönen.
  Während wir auf meinen Onkel warteten, betrachtete ich den an der einen und anderen Stelle von weißen Spitzlichtern beleuchteten, mir als Kind mit seinen in die Höhe ragenden Streben monströs vorkommenden Förderturm, auf dem sich oben unaufhörlich zwei Räder drehten. Das Ding imponierte mir mächtig.
  Aus der Dunkelheit zu seinen Füßen auf uns zukommend ergoss sich dann plötzlich ein nicht abreißender Strom von Gestalten, einige gehüllt in von Kohlestaub verdreckte, mattweiß in der Finsternis schimmernde Bergmannsanzüge und bedeckt mit Helmen, andere in Straßenkleidern und mit Hut. Je näher sie an unserem Auto vorbeigingen, umso besser konnte ich ihre zerfurchten und müden Gesichter
erkennen. Sie erschienen mir wie Lebewesen aus einer anderen Welt, die zu der meiner Behütetheit als Kind in einem für mich damals krassen Gegensatz standen. Meine Eltern waren Büroarbeiter und verdienten deutlich mehr Geld als die Familienmitglieder, die Arbeiter waren. Das waren schon damals soziale Unterschiede und das beinhaltete durchaus auch innerfamiliäre Spannungen.
  Ich kauerte auf der Rücksitzbank des väterlichen Autos und betrachtete gebannt das befremdliche Treiben auf dem Platz vor der Zeche. Bald sah ich draußen in all dem Gewirr von Stimmen und Menschen meine Mutter neben dem Auto stehen, die mir lächelnd und mit zeigenden Gesten bedeutete, dass irgendwo dort hinten mein Onkel auf uns zukommt. Ich vermochte ihn aber unter all den Gestalten, die sich auf uns zu bewegten, nicht zu erkennen.
  Erst als er in unser Auto einstieg, wurde mir an seiner Stimme zuverlässig klar, dass es sich um meinen Onkel handelte und das Gefühl der bis dahin anhaltenden Verunsicherung wich jetzt neben dem der Freude des Wiedersehens mit ihm einer Art kindlichem Respekt vor einer Arbeit, die mit solchen sich am Ende für mich stets glücklich auflösenden Ängsten und Unsicherheiten verbunden war. Wie hart und brutal die Arbeit unter Tage war, vermochte ich mir damals nicht vorzustellen.
 
  Natürlich ist es unklar, ob diese und ähnliche Erinnerungen aus der Kindheit meine Vorliebe für Industrieobjekte nähren, die etwas mit Kohle und Stahl zu tun haben. Jedenfalls besuche ich regelmäßig seitdem ich auch als Fotograf tätig bin zu allen Jahreszeiten die heutige „Route Industriekultur“. Was den Bildermacher daran neben den dort lockenden ästhetischen Versprechungen antreibt, dürfte in einem nicht zu unterschätzenden Maße wohl auch in den autobiographischen Implikationen begründet sein.
  Kein anderes Gefühl hat mich dabei je deutlicher begleitet als die Melancholie, in der sich die Trauer über die vielen neben meinem Onkel mittlerweile verstorbenen Familienmitglieder mit dem Bewusstsein eines unwiederbringlichen Verlusts einer spezifischen soziokulturellen Lebenswelt paart, in der ich eine geborgene Kindheit erlebte.
  Ohne diese Melancholie aber gäbe es auch nicht die Klarheit des Blicks auf jene Objekte, deren Sprache von weit mehr kündet als der Geschichte eines kleinen Jungen, der zufällig in der Mitte des 20. Jhrdts. im Ruhrgebiet zur Welt kam.
 
  Spät erst, später jedenfalls als viele meiner Freunde, wurde ich zu einem begeisterten Leser. Seitdem bestimmt das Buch als leitendes Medium meine geistige Welt. Beginnend mit der Aktivität des Schriftstellers, der sich mit der Kunst beschäftigt und vollends erst als Fotograf wurde mir klar, dass Lesen selbst auch eine Metapher ist für die Begegnung mit der Welt insgesamt, weit über das Buch hinaus.
  Hans-Georg Gadamer hat darauf verwiesen, wie vielfältig die metaphorischen Konnotationen im Sinne des Zusammenlesens, Auflesens und Auslesens sind und wie, übertragen auf das Sehen, die Wahrnehmung selbst zum initialen Akt der Lektüre des Realen wird. Das Vernehmen der Dinge ist damit mehr als das passive Hinnehmen dessen, was ist; in ihm schon lockt vielmehr die Aussicht auf die Offenbarung eines in das Gefüge der sichtbaren Welt eingelassenen Sinns.
  In der Lektüre ist die aktive und kreative Interpretationskraft des Subjekts gefragt, das mit all seinen Kenntnissen, Gefühlen, Stimmungen und Erfahrungen eintaucht in die Welt als seine Heimstatt, deren Besonderheit sich wunderbarer Weise plötzlich dadurch zeigt, dass sie „spricht“.
  Vergessen wir nicht, dass dies eine der wirkungsvollsten Vermächtnisse der Romantik ist. Die Welt ist mehr als sie auf den ersten Blick zu sein scheint, nämlich sinnträchtiges Zeichen, das es zu lesen gilt. Damit hält sie einen Überschuss an Sinn über das hinaus bereit, was unserer Wahrnehmung zumeist und zuerst zugänglich ist, und vor allem hinausweisend über das, was für uns in unseren alltäglichen Handlungskontexten wichtig ist.
  Zweifellos bedarf es dafür der Wachheit der interpretativen Phantasie, die nicht müde wird, in der Begegnung mit den Dingen stets erneut  die Frage zu stellen: „was soll das bedeuten?“ Erst mit dieser Frage machen wir uns überhaupt empfänglich für die „anspielungsreiche Logik der Welt“ (Maurice Merleau-Ponty).
 
  Es bleibt zu erinnern, dass sich der Wert fotografischer Objekte in einem irreduziblen Maß aus der Entscheidung, aus der Wahl oder den Vorlieben des Fotografen ergibt. Wird dies im Zusammenhang mit dokumentarischen Ambitionen - und um die geht es mir in meiner Arbeit -  vergessen oder gar unterschlagen, werden sie naiv und unglaubwürdig.
  Dies gilt in gleicher Weise für Foto- und Videografie. Die eigentlich spannende Frage ist, wo die Grenze zwischen dem liegt, was aus der Unruhe und dem Flickwerk unserer Absichten, Ideen, Gefühle und Phantasien, aus all dieser intrinsischen Theatralik heraus wirkt, und dem, was uns zum Unterlegenen macht - im eigentlichen Sinne „Sub-jekt“ -  also zum Vernehmenden der überwältigenden Macht des Objekts.
  Ich unterstelle, dass es diese Grenze gibt, auch wenn sie nicht leicht zu bestimmen ist. Attraktivität, diese Kraft, unsere ureigenen Regungen wenigstens vorübergehend zum Verstummen zu bringen und uns in die Position von intensiv Wahrnehmenden zu versetzen, ist die Eigenschaft des Wirklichen, diese niemals von uns ausgehende Überschreitung des Subjektiven hin auf etwas, das Eigenes ohne uns ist und uns gerade deshalb umgarnt mit Anziehung. Reden wir hier nicht von dem, was wir Liebe nennen? Von einer Macht, von der wir genau wissen, dass sie vom Anderen ausgeht, und die gleichzeitig und eben deshalb die genaue Schärfung des Sinns für all das ist, was in uns passiert?  
  Wir werden die genaue Grenze niemals zweifelsfrei bestimmen können, dafür aber umso genauer die Dialektik, die Subjektives und Objektives miteinander verknüpft und von der ich als Fotograf zehre und lebe. In dem Maß, wie ich dem Sog des Objekts unterliege, scheine ich in ihm aufzugehen; in dem Maße wie ich es erkunde, werde ich meiner Regungen und Bestrebungen inne und begreife es als mein Objekt.
  Wenn wir von Zeichen reden, meinen wir präzise solche Wahrnehmungsobjekte, deren Überschuss über ihre sinnliche Gestalt in ihrer Bedeutung besteht. Sind sie, wie etwa Verkehrszeichen, nicht zur geläufigen Konvention geronnen, die uns ihren Zeichencharakter beinahe schon wieder vergessen lässt, sondern weniger offenbar, dann rufen sie den Geist auf den Plan und wecken die Lust der Reflexion und Interpretation.
  Ich wandere an einem Sonntagabend im Sommer über das weitläufige Gelände der Zeche und Kokerei Zollverein in Essen. Das Licht der schräg stehenden Sonne entfaltet Form und Farbe der Architektur zu einem erhabenen Spektakel. Nur hin und wieder begegnet mir jemand, der vielleicht genau wie ich immer wieder aufs Neue erstaunt ist über die auffällige Ruhe an diesen einst von höllischem Lärm erfüllten Orten. Ich höre den Gesang der Vögel und das gleichmäßige Rauschen des Windes in Bäumen und Sträuchern. Welch ein Kontrast zur majestätischen Wucht der stumm daliegenden Architektur, und welch ein Kontrast zwischen der Ruhe des Ortes und der Unruhe, die meine Wahrnehmung nicht loslässt.
  Die Szenerie umschwirrt ein Sinn, der plötzlich zu mir zu sprechen scheint und dann wieder verstummt. Er lockt mich mit Offenbarung und entzieht sich, kaum dass ich meine Werkzeuge der Lektüre zur Anwendung gebracht habe. Je intensiver ich schaue, umso mehr bohrt sich mein Auge in das Sichtbare, umso mehr aber drängen auch meine Geisteskräfte wie unruhige Spürhunde über das Sichtbare hinaus.
  Ist es dieses wechselvolle Spiel zwischen begonnener Lektüre und sich abrupt einstellender hermeneutischer Blindheit , das mich zu einem neugierigen, rastlosen Flaneur macht und mich immer wieder zu diesen Orten aufbrechen lässt?  
  Noch eine Frage beschäftigt mich: will ich am Ende diese noch undeutliche Sprache wirklich verstehen? Wartet die Ruine, lässt man sich erst wirklich auf sie ein, vielleicht mit nichts als düsteren und desillusionierenden Botschaften auf? Vermengt sich mit den ebenso ängstlichen wie wohligen Erinnerungen an vergleichbare Orte der Kindheit die Scheu des erwachsenen Zeitgenossen, der sehr wohl historische Zeichen zu lesen weiß und eine erfahrungsgeprägte Intuition dafür hat, wann er es nicht nur mit Vergängnis, sondern auch mit Bedrohlichem zu tun bekommt?
  Gut möglich, dass mein Immer-wieder-Herkommen auch der Versuch ist, die Vernehmung des Sinns immer wieder aufzuschieben, so als wünschte ich mir ein dauerhaftes Geheimnis an diesen Orten, das allein ihre Aura zu bewahren vermag, so als sollte sich das kindliche Glück der Auflösung einer nur vorübergehenden Verwirrung auf ewig wiederholen. Aber ich will verstehen ……
 
  Bei der Arbeit am Video ist mir weit öfter und deutlicher klar geworden als beim Fotografieren, welche Rolle die Stille für die Wahrnehmung der Industrieruine spielt. Die Fotografie hat mich im Laufe der Zeit Geduld gelehrt; Video eine Gelassenheit, die von vornherein gepaart war mit einer meditativen Neugier für die Sprache der gefilmten Objekte, die man nur verstehen kann, wenn man stumm schauend und intensiv lauschend neben der die Arbeit der Aufzeichnung verrichtenden Kamera steht. So jedenfalls habe ich sämtliche Einstellungen mit Stativ gedreht und erlebt.
  Doch auch die Szenen, in denen ich mit der Kamera bestimmte Strecken und Abschnitte der Ruine abwanderte, waren von einer eigenartigen Justierung meiner sinnlichen Aufmerksamkeit begleitet, einer wunderbar ausgewogenen Durchdringung zwischen Hören und Sehen, wobei mir, dem Fotografen, die Videokamera gleichwohl mehr als Verlängerung meiner Ohren denn meiner Augen erschien.
  Ohne den spannungsreichen Kontrast zwischen der ruinösen Opulenz von Architektur und Maschinerie, der man an den Spuren ihrer einstigen Handhabung überall den Lärm ansieht, den sie damals verursachte, und der geradezu idyllischen Ruhe, die sie heute umgibt, wäre ich vermutlich nicht auf die Idee gekommen, ein Video zu drehen.
  Es war nicht mein Blick, der, geeicht auf das fotografische Bild, zur Arbeit mit der Videokamera drängte, es war mein Hören. Und erst durch die genussvoll vernommene Stille, in die es an diesen Orten eintauchte, erwuchs auch die Distanz, aus der heraus die Vorstellungskraft des Geistes offen und sensibel wurde für den Sinn des Ortes.
  Von Synästhesien zu reden war mir geläufig, ihr Zusammenspiel aber an mir selbst zu erleben, war einer der lehrreichen Effekte der Dreharbeiten an den Orten der Industrieruine. Exemplarisch deutlich wurde mir so die Sinnlichkeit des Sinns, der sinnliche Geist ebenso wie der Geist der Sinnlichkeit.
 
  Ich kann mich mit sehr wenigen Ausnahmen nicht daran erinnern, diese Orte jemals besucht zu haben, ohne zuvor eine genaue Analyse des Lichts durchgeführt zu haben. Bedeckter Himmel mit kontrastarmem und dunstigem Licht schied stets aus, da die Architektur, gerade diese, sofort an Volumen und Farbplastizität verliert.
  Nur bei wenigen Videosequenzen im Halbschatten oder in Innenräumen habe ich es akzeptiert, teilweise bewusst gewählt, mit diffusem Licht zu arbeiten, um gezielt bestimmte bildliche Aussagen und ästhetische Wirkungen zu erzielen, übrigens dann in Schwarzweiß. Sequenzen und Fotos, die im Freien gemacht wurden, leben demgegenüber uneingeschränkt von klarem und hartem Licht, jedenfalls einem Minimum an direkter Sonnenbeleuchtung, die die Architektur erst in ihrer ganzen Imposanz hervortreten lässt.
  In den amerikanischen Fotografen William Eggleston und Stephen Shore habe ich bis heute Leitfiguren, die mich gelehrt haben, die gestalterische und ästhetische Kraft der Farbfotografie einschätzen zu können. Da ich selbst aber als Produzent von der Schwarzweißfotografie herkomme, bedurfte es einer über Jahre dauernden Erweckung der Leidenschaft für den gedeihlichen Umgang mit der Farbe. Dabei spielten die Industrieanlagen im Ruhrgebiet stets eine führende Rolle, trotz der relativ eingeschränkten Farbpalette, die sie zu bieten haben.
  Rostbraun und Rostrot in all ihren feinen Abschattungen sind die Leittöne, gefolgt vom Braungelb und Braunorange und den filigranen Stufungen des Rubins, das sich rasch im Spiel von Licht und Schatten verflüchtigt. Allein dieses beschränkte Set der Töne lässt die Architektur, je härter und durch Wolken oder Dunst unverstellter das Licht auf sie trifft, eine Sprache des prächtigen Verfalls und erhabener Vergängnis sprechen.
  In ihrer Würde und umhüllt vom Glühen der Farbe nimmt es diese Sprache mit der jeder anderen Architektur auf. Im Gegensatz zur zeitgenössischen Stadtarchitektur führt sie uns ungleich stärker in die Gefilde eines historischen Sinns, in den die tiefsten Schichten der Moderne eingelagert sind. Die Farbe an diesen Orten ist das prunkvolle Portal, durch das wir zu ihnen gelangen können.
 
  Wahrscheinlich sind es die über die Jahre empfangenen Prägungen durch die ungeheure Intensität von Licht und Farbe dieser Orte, die mich wie beim ersten Mal stets mit unverbrauchter Frische erneut hierherziehen. In gewisser Weise ist eine „strahlende Ruine“ ein Paradoxon, zumal mit dem Verfall von Architektur eher Assoziationen an Düsternis und Moder verbunden sind, wenn nicht gar an havarierte Atomkraftwerke. Nicht so hier, im Gegenteil.
  Ist dies der Grund, warum ich mit jeder Wiederkehr den festen Glauben verbinde, etwas Neues, bisher von mir nicht Entdecktes finden zu können? Ich kenne mittlerweile jeden Winkel an diesen Orten, ich weiß, welche Schatten das Licht zu welchen Jahres- und Tageszeiten wirft, wann sich bei dunstfrei sinkender Westsonne die intensivsten Graurubin und Tiefrottöne auf den Hochöfen und Koksbatterien entfalten.
  Oder ist es schlicht die unverbesserliche Haltung des Flaneurs, der die Genialität dieser Orte von vornherein in die Form des Bildes übersetzt, das er ihnen als seine ästhetische Trophäe zu entreißen sucht?  Zweifellos sind diese Bilder solche einer unvergleichlichen Erhabenheit, auf denen sich das langsame, aber unaufhaltsame Geschehen eines majestätischen Verfalls darbietet, dem eine ebenbürtige Melancholie ihre andauernde Referenz erweist.
  Gerade nach Stunden des sommerlichen Aufenthalts bei klarem und mediterran anmutendem Licht dachte ich oftmals : die Ruine liegt in der Landschaft wie Farben auf einem Gemälde. Das Ensemble wirkt wie eine kalkuliert abgestufte Komposition von Tönen. Vielleicht ist das diesen Orten kongenial eignende Darstellungsmedium viel eher die Malerei als Foto- oder Videografie.
 
  Der Bezug zur Malerei und die Auseinandersetzung mit ihr zählen zu den unvermeidlichen Beschäftigungen, die auf den Fotografen zukommen. Es gibt keine auch nur halbwegs plausible Position der Fotografie, die ohne Bezug zur Malerei ihre Konturen und ihr Profil gewinnen könnte.
  Seit bald zweihundert Jahren prägen ökonomisch, technisch und ikonographisch Konkurrenz und Konkubinat das Verhältnis beider. Am wenigsten braucht dies die Maler mit schlechtem Gewissen zu erfüllen, eher schon diejenige Gilde der Fotografen, die vom Pictoralismus bis in unsere Tage der „elektronischen Malerei“ mit diversen Entlehnungen und Nachahmungen operieren, ohne die sie den Rang der Fotografie als Bildkunst gefährdet sehen.
  Ich gebe John Berger Recht, wenn er sagt, dass es nicht ergiebig ist, eine Kunst der Übersetzung, die Malerei, mit einer Kunst des Zitierens, der Fotografie, zu vergleichen. Schon in dieser Begriffswahl ist für mich Entscheidendes gesagt. Aber selbst wenn es nicht um die Etablierung eifersüchtiger Hierarchien geht, so gebietet es doch der Respekt vor dem Handwerk und dem Prozess der bildlichen Inszenierung, Vergleiche ohne Scheu und Unterschlagungen vorzunehmen.
  Gewiss liefern beide Medien Bilder, aber wenn die Fotografie überhaupt eine Kunst ist, dann eine des geschulten und kritischen Blicks, der fragmentierte Spuren des Realen im Bild liefert, das dann zum Gegenstand von Neugier, Interesse und ästhetischer Wahrnehmung werden kann. Hinsichtlich der Genese des fotografischen Bildes hätte Hegel diese ohne Zögern dem innersten Bezirk des Geistes und der begrifflichen Reflexion zugeschlagen, vergleichbar der Poesie im Ensemble aller Künste.
  Angesichts des in der Malerei ungleich komplexeren Zusammenspiels zwischen Phantasie, Auge und Hand und der vielschichtigeren Unwägbarkeiten in der Handhabung des Materials, endet hier der Vergleich, zumindest im Handwerklichen. Verwechseln wir nicht den läppischen Druck auf den Auslöser oder den Klick für einen Bearbeitungsbefehl im Computer, ja selbst die sorgfältige Arbeit in der Dunkelkammer mit der tastenden Bewegung eines Pinsels, der sich stets aus dem darstellerischen Nichts heraus zur gelungenen Darstellung erst vorarbeiten muss, und dies in jeder Phase seiner Operationen. Gewiss bedarf es in beiden Fällen der Kraft der Imagination, und trotzdem sollten wir nicht vergessen, dass der Fotograf mit entlehnten Vorgaben arbeitet, der Maler aber mit dem bildlichen Material, das er allererst erschaffen hat.
  Die Fotografie hingegen hat keine eigene Sprache, sondern entlehnt sie ihren vorgefundenen Motiven. Diese Tatsache können auch digitale Bildgenerierungen und - kompositionen nicht verleugnen, denn sie sehen nur aus wie Fotografien, weil sie Simulationen des Fotografischen sind.
  Es bleibt eine Peinlichkeit ersten Ranges, dass digitale Bildgenerierungen ihre Sprache der Fotografie entlehnen, die wiederum keine eigene Sprache hat. In der Fotografie dominiert die Signatur des Objekts, nicht die des Fotografen; im Kontext der digitalen Simulation der Fotografie prunkt demgegenüber neuerlich der Mythos des Künstlers, der glaubt, seinen Sujets unbedingt seinen Stempel aufdrücken zu müssen.  
  Sehr wohl aber hat die Malerei von vornherein ihre eigene Sprache, selbst wenn sie darstellerisch verweist auf das Reale. Im ersten Vollzug einer Linie, in der frischen Setzung eines ersten Farbtupfers entsteht der Sinn einer gestischen Formulierung, der ohne sie nicht existierte und nirgends sonst zu finden ist. Die Malerei überschreitet die Sprache der Dinge und erschafft sie neu, die Fotografie ist ihr Wiederhall.
  Seltsam, die Salonfähigkeit, will sagen die Auktions-, Markt-  und Museums-tauglichkeit der Fotografie wird heutzutage gedankenlos davon abhängig gemacht, ob sie sich mit den Insignien und dem Duktus der Malerei und des Künstlertums zu schmücken weiß. Dabei wäre es doch so leicht, so naheliegend, wenn sie sich auf ihre gänzlich unverwechselbare Weise dem Pop-Art-Credo eines Allan Kaprow verpflichtet sähe: wachen Blicks und dem Sog des Realen vertrauend raus auf die Straße und in den Alltag mit allen überraschenden Inspirationen und Abenteuern - der Rest findet sich von selbst.
 
  Gibt es Objekte und Szenarien, die den Willen zur Malerei überfordern oder gar ersticken? Deren Gestalt oder historische Konnotationen die Malerei in die Flucht schlagen, noch bevor ein erster tastender Pinselstrich stattgefunden hat? Und all das, nachdem sich die Malerei des 20.Jhrdts. so gut wie an jeder Thematik versucht und notfalls auch übernommen hat? Oder umgekehrt: angespornt von Cézannes Realismus, seinem „Hass auf das Phantasiegebilde“ und „voll von der Größe, dem Heroismus des Wirklichen“ beginnt demnächst die malerische Eroberung der Ruinen der modernen Schwerindustrie?
  Tatsächlich habe ich bei meinen Erkundungen und Spaziergängen auf dem Gelände der Industrieanlagen in mehr als zehn Jahren nie einen einzigen Maler gesehen, wohl aber einige Zeichner, die sich an diesen Objekten versuchten. Vielleicht ist diese auffällige Abstinenz der Grund dafür, warum meine fotografische Suche dort immer wieder begleitet wurde von imaginären Gefährten der Malerei, die mir bei meinen Erkundungen Gesellschaft leisteten.
  Zu solchen wählte ich gern zwei beispielhafte Antipoden der aufkommenden Moderne im 19. Jhrdt. – Cézanne und Van Gogh, deren Verständnis der Malerei kaum unterschiedlicher sein konnte. Mir ist bei meinen Spaziergängen mit meinen zwei Begleitern sofort klar, dass sie, noch während ihre Blicke erkundend den Gegenstand abtasten, in einer Hinsicht einer stillschweigenden Übereinkunft unterliegen – das Ergebnis ihrer Anstrengungen, wie immer es auch ausfallen mag, wird einem figurativen Grundkanon Rechnung tragen: die Malerei wird die gegenständliche Widererkennbarkeit des Objekts gewährleisten, der Schritt in die Abstraktion wird nicht gegangen.
  Aber damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf und am Ende werden die Bilder in ihrer konkreten Faktur höchst unterschiedlich ausfallen, ganz so wie wir es von den beiden kennen.
 
  Van Gogh unterliegt sofort dem Sog des hellen, klaren und harte Kontraste erzeugenden Lichts, das ihm - für diese Gegend vollkommen überraschend und aufgrund des makellosen Azur - als geradezu „provenzalisch“ vorkommt. Es dauert nicht lange und ich sehe ihm an, dass er sich einschwingt in seinen Enthusiasmus der Farbe, dem sich „jedwedes Kolorit in höchst suggestiven Ausdruck verwandelt“.
  Aber gerade deshalb auch stutzt er plötzlich. Ich erinnere mich an seine Sätze, die er etwa zum ‚Nachtcafé‘ äußerte, dass er nämlich mit den Rot- und Grüntönen des Bildes die „schreckliche Leidenschaft der Menschen“ ausdrücken wollte und dass ihm jede Farbe eine „Bewegung des glühenden Gefühls“ darstellt. Ich beginne zu verstehen.
  In seinem Zögern melden sich Bedenken, die der Portraitist, Landschafts- und Stilllebenmaler nicht auf die leichte Schulter nimmt. Kann sich an diesen monströsen und sperrigen Objekten, diesen auf ewig verstummten Industriegiganten inmitten der sich im Wind wiegenden Bäume und Sträucher ein „glühendes Gefühl“ entzünden? Das Kolorit ist nicht das Problem, im Gegenteil. Hier will der Maler sofort zugreifen. Dennoch bleiben Fragen.
  Lässt sich an diesen Objekten eine innere, auf die Emotionalität des Menschen bezogene Kraft ablesen und vom Maler erfühlen, die sich mit aller Macht in die Darstellung auf der Leinwand drängt? Würde Van Gogh es schaffen, diesen gemalten Objekten die für ihn typische, trotz aller Endgültigkeit der geronnenen Farbe ondulierende Bewegung zu verleihen? Was würde eine tanzende Architektur in seiner Ikonographie bedeuten  – genauer, was wäre sie bildlich wert? Wären wir noch bei Van Gogh oder vielmehr schon bei den Expressionisten des frühen 20. Jhrdts., bei Kirchner und Dix etwa, denen lebensweltlich ein industrielles und urban geprägtes Szenario als Thematik für die Malerei bereits ungleich vertrauter und geläufiger war?
  Jeder, der ein Bild machen will, hat einen intuitiven Bezug zu den Objekten, die seine Aufmerksamkeit herausfordern und an denen sich der darstellerische Impuls entzündet. Ruinen zählten nie zu Van Goghs Präferenzen, derartige schon gar nicht. Ich habe ihn mit seinem anhaltenden Zögern genau im Auge und verstehe seine Zweifel…..
 
  Cézanne fehlt wie immer der Antrieb malerischer Begeisterung. Als geborener Skeptiker und bedächtiger Eigenbrötler sind ihm zwei Dinge, die Van Gogh heilig sind ein Graus – Gefühl und Ausdruck. Auf unseren Spaziergängen wundert mich daher auch nicht, dass er viel länger und geradezu teilnahmslos seinen Blick immer wieder über das gegenständliche Panorama schweifen lässt. Entgeht er im Gegensatz zu seinem Antipoden hier den Tücken einer Herausforderung durch eine befremdliche Kulisse?
  Cézanne ist ein „langsamer“ Maler, einer der nicht rasch tüpfelt, um die darstellerische Leere des weißen Leinens auszufüllen, sondern einer, der in vom Schauen unterbrochenen Strichen und tastenden Bewegungen des Pinsels arbeitet. Er ist der erste Maler der frühen Moderne, der ein klares Bewusstsein davon hat, dass es eine unaufhebbare Differenz und eine unvermeidliche Dialektik zwischen dem Gegenstand und dem Bild gibt. Beide sind untrennbar verbunden, aber auch irreduzibel voneinander verschieden. Keine Malerei kann jemals den Gegenstand reproduzieren im Sinne einer eindeutigen Transformation der Sinnesempfindung, aber sehr wohl ist der Malerei aufgetragen, ihren Gegenstand zu „repräsentieren“, so dass sie zur „Konstruktion vor der Natur“ wird, die einer ganz und gar eigenen darstellerischen Logik folgt.
  An unseren Orten wird Cézanne mit einem Problem konfrontiert, das genau wie bei Van Gogh ins Zentrum seiner Malerei zielt. Lässt sich hier sein Credo halten, dass es keine Linien, sondern nur farbliche Kontraste gibt, die das Bild modulieren? Gerade in dem harten Licht wird sein Auge mit einer unerbittlichen Geometrie der Linien konfrontiert. Wohin er sich auch wendet, eine Symphonie der horizontalen, vertikalen und diagonalen Linien hat das imponierende Funkeln des Kolorits fest im Griff. Wie will seine Malerei dies auflösen, ohne dass die Darstellung schließlich die Verpflichtung der von ihm intendierten Repräsentation unterläuft? Kann hier Farbton an Farbton grenzen, ohne dass die Darstellung eines von gnadenloser Geometrie beherrschten Gegenstandes in die Zeichnung einer nur koloriert erscheinenden baulichen Skizze gerinnt?
 
  Ich spüre, dass ich bei unserem gemeinsamen Spaziergang nunmehr an einem Punkt angelangt bin, wo ich parteiisch werde. Die spröde Handwerklichkeit Cézannes und sein demütiges Ringen mit der Materialität der Malerei sind mir näher als die mir stets schwärmerisch und zu psychologisch geratene Gangart Van Goghs. Noch während meine Begleiter mit ihrer prüfenden Umherschau beschäftigt sind, kommen mir die vielen Bilder und Studien in den Sinn, die Cézanne von der Sainte Victoire und ihrer Umgebung gemacht hat.
  Dieser Berg und nicht minder die Architektur der Dörfer zu seinen Füßen hat ihn wahrscheinlich sehr oft vor eine ähnliche Herausforderung gestellt. Er wird der Aufgabe Herr werden, er wird das eingeschränkte Farbtonspektrum der Industrieruine genauso meisterlich in feine Schattierungen der Ölfarbe übersetzen wie er es mit den Grüntönen der Vegetation, dem Blassgelb und Gelborange der Häuser und den von beiden infizierten unwahrscheinlichen Lichtreflexen des Bergfelsens gemacht hat. Und am Ende werde ich mich wie immer bei ihm fragen, wie es ihm gelungen ist, die zumindest im ersten Augenschein geradezu naturfeindlich dominierende Geometrie der Linie in einen subtilen farblichen Modulationskontext zu transformieren.
 
  Während sich meine imaginären Weggefährten in ein Gespräch über die elementare Bedeutung der Farbe für ihre Malerei vertiefen, verblasst langsam ihr Bild in mir und ich werde als einsamer Spaziergänger auf die Tatsache zurückverwiesen, dass ich an diesen Orten mit einem Auftrag bin, der mit dem ihren höchstens die Liebe zum Sichtbaren gemein hat.  
  Mit dem Druck auf den Kameraauslöser werde ich auf Film oder Sensor im Wesentlichen bereits all das mit einem Streich gebannt haben, dass die beiden sich ungeachtet ihrer Meinungsunterschiede als Maler werden erst in hartnäckigen darstellerischen Bemühungen erarbeiten müssen. Ich werde nachher am Computer sitzen und an der einen und anderen Stelle der Fotos Belichtung, Kontraste und Sättigung der Farbe nachbearbeiten.
  Mit diesen wenigen Operationen werde ich mich zufriedengeben, weil ich weiß, dass der entscheidende Moment der Fotografie vor dem Druck auf den Auslöser liegt und ich durch geduldiges Schauen die Bildaussage ohne viele nachträgliche Modifikationen so in Szene setzen kann wie ich es mir wünsche.
  Ich werde ein gutes Gefühl dabei haben, sowohl mit analoger als auch digitaler Apparatur zu arbeiten und dennoch in fotografischer Einstellung die Spur des Objekts zu wahren. Und am Ende nährt sich meine Leidenschaft für die Fotografie aus der Hochachtung für die Malerei und dem Bewusstsein, das Albert Renger-Patzsch den Fotografen mit auf den Weg gab als er vorschlug, die Kunst den Künstlern zu überlassen und mit den Mitteln der Fotografie bildliche Qualitäten zu schaffen, ohne dafür bei der Kunst zu borgen.   
 
  Im Gegensatz zu den Fotografien, die auf den Industrieanlagen entstanden sind, habe ich bei meiner Arbeit an dem Video von den Einstellungen her meistens mit Weitwinkel operiert, um so der skulpturalen Totalität der Objekte Rechnung tragen zu können. Gemessen daran erscheinen die Fotos wesentlich fragmentarischer. Zudem habe ich sie strikt in Farbe gehalten, weil ich von vornherein den unabweisbaren Eindruck hatte, dass das von mir bei den Aufnahmen gewählte Licht mir keine andere überzeugende Wahl gelassen hat. Es „schrie“ gebieterisch nach Farbe und erstickte jeden Ansatz zum Schwarzweißkonzept im Keim.
  Ich habe oftmals bewusst entweder die Abendstunden im Sommer oder sonntägliche Nachmittage in Frühjahr und Herbst als Zeitpunkt meiner Spaziergänge gewählt, um das Video zu drehen. Der wichtigste Verbündete dabei war die an solchen Tagen dort waltende Ruhe und die dadurch gegebene Möglichkeit, das vorherrschende lokale Tonambiente ohne weitere Störungen durch zu viele Besucher aufzeichnen zu können, obwohl auch die in der einen und anderen Sequenz ihren passenden Beitrag zur Tonkulisse geleistet haben.
  Einer der entscheidenden Unterschiede zwischen Foto- und Videografie liegt mitnichten auf der Ebene des Bildes, sondern sehr viel eher bei der Hinzunahme des Tons und dem dadurch definierten Zusammenhang zwischen Bild und Ton. Ich bin kein Freund von Nachvertonungen, sondern bevorzuge strikt O-Ton. Alles, was nicht „live“ dazu gehört, erscheint mir als höchst artifizielle Beimischung, die mir zu sehr nach filmischem Theater riecht, das ich nicht mag. An Beimischungen von Musik war gar nicht zu denken, weil mit ihr eine vordergründig manipulative und leicht dem Kitsch verfallende Beeinflussung der emotionalen Wahrnehmung einherzugehen droht.
 
  Eine der schwierigsten Aufgaben für den Film, durchaus aber auch übertragbar auf die Videografie, hat Robert Bresson gestellt, nämlich eine Verwandtschaft zu finden zwischen Bild, Ton und Stille. Dies ist ungeheuer schwer, nicht zuletzt auch weil es das mentale Gleichgewicht des Filmers während der Dreharbeit voraussetzt.
  In seinen „Noten zum Kinematographen“ gibt es einen Satz, der mich in meiner videografischen Arbeit zutiefst beeinflusst. „Bewegen nicht mit bewegenden Bildern, sondern mit Beziehungen von Bildern, die sie gleichzeitig lebend und bewegend machen.“ Die so hergestellten bildlichen Beziehungen bedürfen keiner Literatur und keiner Handlung, die sie zusammenhalten. Was in der Abfolge der Einstellungen so hervortritt ist vielmehr die „sichtbare Rede“ des Realen, die in der Dauer des bewegten Bildes und des Tones zu uns spricht. Kein Foto vermag jemals einen solchen Eindruck von Simultaneität der erlebten Zeit zwischen Bild und Betrachter herzustellen.
  Deshalb ist das bewegte Bild ungleich illusionistischer als das Foto, weil es uns als Betrachter sofort hineinzieht in die erlebt-erlebbare Dauer unserer natürlichen lebensweltlichen Wahrnehmung. Das Emblem der Zeit über dem geronnenen, fotografischen Bild hingegen ist der Tod. Die einzige Dauer, die das Foto in uns bewirkt, vollzieht sich im interpretativen Spiel der Einbildungskraft, wenn wir die Frage entfalten, was das Foto für uns ist und mit uns macht. Die Fotografie ist die Komplizin von Tod und Verschwinden, die Videografie auch, aber sie suggeriert durch die Bewegtheit ihrer Bilder, als wäre es bei ihr anders.   
  Aus diesen Gründen hat die Videografie für mich einen sehr viel direkteren und intuitiveren Bezug zu den alltäglichen Abläufen und Geschehnissen des Lebens als die Fotografie, selbst wenn beide als Bildkonstruktionen der Wahrung des Realen verpflichtet bleiben. Der Rhythmus des Videos führt uns direkt zu dem unserer physischen Existenz inmitten der Dinge. Genau deshalb sind Andy Warhols Videos von Schlafenden oder Gebäuden so erhellend wie die James Bennings von Städten oder Seen.
 
  Geschichten und damit verknüpfte Handlungen haben für mich immer schon viel mehr zu tun gehabt mit dem, was sich in der Phantasie abspielt als mit den Offensichtlichkeiten der bildlichen Konstruktion selbst. Von daher halte ich es auch für einen Irrglauben, dass das bewegte Bild seiner Natur nach eine Erzählung sein müsse. Anstatt alles auf die scheinbare „Natur“ eines Mediums zu schieben, sollten wir uns klar machen, dass wir es hier faktisch mit Mentalitätsprägungen, also Sehgewohnheiten und Rezeptionsgeschichte zu tun haben, die täglich von Massenmedien gezüchtet und genährt werden. Sich genau denen zu verweigern, fällt gerade einer sich letztlich dokumentaristisch verstehenden Videografie schwer, weil sie sich je nach Thematik am weitesten von ihnen entfernt.
  Als ich vor vielen Jahren begann, mich fotografisch mit den Industrieanlagen im Ruhrgebiet zu beschäftigen, wurde mir rasch klar, dass es sich um immens historisch geprägte Objekte handelt, deren bildnerische Erkundung den entsprechenden Respekt vor ihrer genuinen Sprache erfordert, ohne sie zur Kulisse für ästhetische Spektakel zu degradieren.
  Als ich vor zwei Jahren mit den Dreharbeiten für das Video begann, habe ich schneller als bei irgendeiner vorherigen fotografischen Begehung gemerkt, worin dieser Respekt besteht. Ich verspürte bei jeder Einstellung, die ich wählte, eine geradezu kindliche Freude darüber, die Kamera als die Verlängerung meiner Augen und Ohren zu verwenden, um mich in einer hörenden Schau der Sprache zu überlassen, die sich mir, ich bin geneigt zu sagen „uns“ bot, denn ich fühlte mich verbrüdert mit der Kamera, von der ich unsinnigerweise aber dennoch glaubte, dass sie die Arbeit der Vernehmung wesentlich besser würde leisten können als ich selbst.  
  Als ich hinterher die Aufnahmen prüfte und den Schnitt machte, wurde ich konfrontiert mit dem “geschriebenen Moment der Wirklichkeit“ (Pier Paolo Pasolini) und das empfundene Glück des Drehens trat als Erinnerung in den Hintergrund. Denn erst jetzt begann die Arbeit der Interpretation, nachdem die Augen und Ohren und ihr verlängertes Organ das Werk der Sammlung vollzogen hatten. Wieder wurde ich, doppelt ausgestattet mit den foto- und videografischen Bildern, ergriffen von dieser eigentümlich beunruhigenden geistigen Neugier, um zu entziffern, welche Botschaft diese sperrigen und ruinösen Objekte verkünden.
 
  Besteht der Sinn der Industrieruinen in einer historischen Erzählung, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt und unser Leben nach wie vor bestimmt? Wie tot ist die Ruine und wie lebendig ihre Botschaft? Ist diese kryptisch oder beinahe schon so banal, dass man sie leichthin übersieht?
  Ich weiß, dass ich den Schleier der Schönheit zur Seite ziehen muss, einen Blick nehmen muss auf das, was dahinter liegt, allein auch um das vorherrschende Gefühl zu verstehen, das mich jedes Mal, wenn ich diese Orte betrat, begleitete, diese schwere Melancholie, diese lastende Trauer, in die nicht nur meine Familienbiographie eingewoben ist, sondern von der ich spüre, dass sie mich zutiefst als Zeitgenossen berührt, so wie alle anderen auch.
  Ich spüre es - diese Ruinen haben die Kraft eines historischen Mythos, ja vielleicht eines Menetekels, eines Anzeichens für schon angerichtetes und anhaltend drohendes Unheil. Und die Menschen machen Besichtigungsfahrten dorthin und sagen sich: lasst uns schauen wie es einmal war, reisen in eine vergangene Welt der Industrie und uns freuen, dass wir in einer fortschrittlicheren Welt als der damaligen leben ……
 
  Ein Zeichen als Allegorie zu lesen bedeutet, sich nicht auf die blitzartige Komprimierung eines Sinns zu konzentrieren wie bei einer Metapher, sondern sich um das Verständnis der Bedeutung zu bemühen, so wie wir es tun, wenn wir beginnen, einen Text sukzessive zu lesen, dessen Sinn wir zu Beginn der Lektüre noch nicht kennen. Verständnis erfordert hier eine hermeneutische Vermittlung, die eine Bewegung des Sammelns ist. Allegorien zu verstehen heißt daher, Geschichte(n) zu begreifen, nicht nur Ideen nachzuvollziehen.
  Wenn wir die Rose als Symbol der Liebe verstehen, denken wir mitnichten an die Geschichte einer bestimmten Liebe, sondern lediglich an eine abstrakte, und dennoch unmittelbar einleuchtende Idee der Liebe. Nicht so bei der Allegorie. Geschehnisse oder Dinge als solche zu begreifen, heißt in ihrem Zeichen einen Text zu vernehmen, der sich nicht durch unmittelbare Evidenz, sondern erst durch die Arbeit des Begriffs erschließt.
  Die Aura einer allegorischen Lektüre hat sich immer nur dort entfalten können, wo die Achtsamkeit des Lesers durchtränkt war mit Trauer. Deshalb sind Melancholie und Allegorie Geschwister im Geiste, da sie Zeugnis ablegen von der unaufhaltsamen Vergänglichkeit alles Weltlichen in den Zeitläufen historischen Werdens und Vergehens.
  Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass kaum ein anderes Objekt als die Ruine besser geeignet ist, diese Geschwister auf den Plan zu rufen. „Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge“. Bleibt die Frage, ob es einen spezifischen allegorischen Sinn spezifischer Ruinen gibt, so dass am Ende nicht die Kirchen-, Burg- und Industrieruinen zu einem zwar für alle gemeinsamen evidenten Minimalsinn, nämlich am Ende nur zu dem „des“ Verfalls undifferenziert ineinanderlaufen. Man hüte sich vor einer fahlen Romantik, bei der man sich schon beim bloßen Anblick einer Ruine ohne weitere Anstrengung des Begriffs ob des Verfalls der Dinge und der Endlichkeit unserer Existenz eine Träne abdrücken möchte. Tiefe Trauer bedarf der Vermittlung durch die Kälte der Reflexion, ohne die die Qualität der Empfindung zum puren Klischee verkommt.
 
  Jedes Objekt und jede Erfahrungssituation kann man ästhetisch wahrnehmen, indem man sich auf ihr momentanes Erscheinen einlässt und als Betrachter eine kontemplative Haltung einnimmt. Genauso aber kann man jedes Objekt danach befragen, welche Rolle es in praktischen Handlungskontexten spielt oder gespielt hat. Ästhetische Haltungen kann man einnehmen, man kann sie aber auch verweigern.
  In diesem Wechsel der Einstellung freilich verändert sich die Lektüre der Industrieruinen in Richtung einer sozioökonomischen Begrifflichkeit. In deren Zusammenhängen sind sie nicht nur Bestandteil des Mythos vom „Wirtschaftswunder“ und als solche Embleme für den entstehenden wirtschaftlichen Reichtum nach dem zweiten Weltkrieg, sondern sie geraten vielmehr in den Blick auch als Orte höchst strapaziöser und ungesunder Arbeitsbedingungen sowie Quelle massiver Umweltverschmutzungen.
  All dies ist gesagt und bekannt und trotz dieser unabweisbaren historischen Wahrheit, erschöpft sich darin nicht die Botschaft der Industrieruine. Ich muss mit meiner Lektüre tiefer eintauchen in die Schichten der modernen Verschränkung von Geschichte, Kultur, Natur und menschlicher Existenz. Alles andere liegt noch zu sehr auf der Ebene der Offensichtlichkeit. Kein Besucher der Industrieruine wird je Assoziationen zu Parfums, feinen Stoffen und zarter Babyhaut bekommen haben, wenn er die Rußrückstände auf den Wänden der Koksbatterien gesehen hat. Mit den gesicherten und für sich schon illusionslosen Erkenntnissen, so fraglos sie sind, ist aber eine allegorische Lektüre der Ruine nicht möglich.
 
  Natur konnte man stets als Schauplatz der Geschichte verstehen. Vormodern hat man sie noch ansehen können als von den Eingriffen des Menschen in ihre Gesetze unberührte Kulisse. Als Kinder der modernen Risikogesellschaft wissen wir, dass unsere Eingriffe mittlerweile zu kumulativen Effekten führen, die das Gleichgewicht der Natur, und damit das unserer natürlichen Lebenswelt zerstören. Als Akteure inmitten der Natur werden wir Opfer und mit uns die Natur. Genauer: unsere Naturwesenhaftigkeit macht auch uns zu Opfern, weil die Natur die Schädigungen durch unsere Lebensweise nicht mehr folgenlos verträgt.
  Und doch ist an den Orten der Industrieruine scheinbar alles in Ordnung. In Dortmund heißt es, auf den vergifteten Böden der Kokerei Hansa würden Pflanzen wachsen, die es nur an diesem Ort gäbe und um deren Willen Biologen Exkursionen dorthin unternehmen. Eines der auffälligsten Merkmale zumindest an Frühlings- und Sommertagen ist das fast ungehemmte und üppige Wuchern der Vegetation an sämtlichen Standorten. Die Natur erscheint so nicht als erleidender Schauplatz, sondern als beherrschender Akteur. Sie dominiert zunehmend die Ruine und holt sich von dieser an Raum zurück, was ihr einst genommen wurde.
  Tatsächlich aber sind wir hier nur mit trügerischen Idyllen konfrontiert und einer Dialektik, die am Ende eher schauerlich ist. Das Wirken der Natur wirkt eigentümlich verspätet - sie rächt sich am kulturellen Monument erst in der Phase seines Verfalls, anders gesagt: erst im Zustand ihrer Vergiftung triumphiert die Natur über die Insignien der Industriegeschichte. Von daher wäre es naiv, sie als Kulisse der Ruine in ihrer Schönheit und Wiederauferstehung zu besingen. Die Natur, die hier wuchert, ist infiziert von den Spuren ihrer Versehrtheit. Ihre äußere Gestalt ist unverändert, aber in ihrem inneren Gefüge hat der infizierte Boden seine Prägungen hinterlassen, ganz so wie wir es kennen von unzähligen Müllkippen, über die mit der Zeit „das Gras gewachsen“ ist.
  Wir meiden gern Müllkippen, vermutlich weil wir dort instinktiv eine Kontaminationsgefahr ahnen und damit der Verletzlichkeit unserer eigenen Natur bewusst werden. Der Industrieruine begegnen wir anders - ihr ästhetischer Reiz und ihre erhabene Wucht ziehen uns an. Sobald wir hingegen unser Augenmerk auf die sie umgebende Natur lenken, wird uns auch an diesen Orten die Unauflösbarkeit einer Schicksalsgemeinschaft klar: als Naturwesen können wir den Vergiftungen sowenig entkommen wie die Natur insgesamt -  ungeachtet der Wucherungen unserer stets sauber daherkommenden und auftrumpfenden Kultur, von der wir wohl insgeheim wünschen, sie möge uns eines Tages mit ihren Erfolgen aus den Fängen unserer Naturgebundenheit lösen.
 
  Über die Betrachtung der Rolle der Natur als Schauplatz auch der Industriegeschichte finde ich schließlich den Zugang zum allegorischen Verständnis der Ruine. Wenn ich mich in eine historisch-anthropologische Perspektive begebe, habe ich gute Chancen, endlich jenen Sinn zu verstehen, dem ich bei meinen Erkundungen so oft nahe zu sein schien.
  Ich bediene mich dabei metaphorisch zweier Gestalten aus der griechischen Mythologie – Prometheus und Proteus, um anhand ihrer zwei der wohl markantesten Verhaltensweisen des Menschen in der Moderne verdeutlichen zu können. Prometheus ist der Freund des Menschen, der den Göttern das Feuer stiehlt, um den Menschen ein wenig von der Mühsal ihrer Existenz zu nehmen. Seine Haltung ist die eines gewieften Partisans im Kampf mit allen Widrigkeiten des Schicksals, der in seinen Handlungskalkülen stets darauf zielt, den Menschen den Vollzug ihres Lebens so angenehm und leicht wie möglich zu machen. Was anderes als dies treibt die Spezies in ihren erfinderischen und geistreichen Bemühungen seit Urzeiten, speziell aber seit den frühindustriell-manufakturellen Erfindungen im 18. und 19. Jhrdt. an ?
  Proteus ist der Künstler der Verwandlung. Er vermag sich zwecks Erreichung seiner Absichten ganz unterschiedliche Gestalten und Gesichter zu verleihen. Er ist der geborene Opportunist im eigentlichen Sinne des Wortes - er weiß um die Gebundenheit allen Handelns an situative Gegebenheiten, die er dann geschickt auszunutzen weiß. Zwar ist es dem Menschen nicht möglich, in der vom Mythos dargestellten Weise, seine äußerliche Gestalt zu wechseln, aber das hat speziell den modernen Menschen nicht daran gehindert, seine jeweiligen sozialen, ökonomischen und natürlichen Lebensverhältnisse einer radikalen Transformation zu unterwerfen, wenn es nützlich und machbar erschien, und dies selbst um den Preis der Eliminierung aller gewachsenen Traditionen. Keinem historisch halbwegs bewussten Zeitgenossen dürfte dies bekannter vorkommen als uns Heutigen im Zeitalter der 3. mittlerweile bereits vollzogenen und derzeit angekündigten 4. industriellen Revolution.
 
  Für uns Moderne sind Prometheus und Proteus in gleicher Weise prägende Gestalten unserer Eingriffe in die Welt - der eine repräsentiert den unbedingten Willen zu Glück und Wohlleben, der andere den der Dominanz eines diesem untergeordneten Nützlichkeitsdenkens, das steten Wandel und Fortschritt propagiert. Gewiss kann man beide Gestalten auch als das menschliche Lebewesen insgesamt treffend beschreibende anthropologische Metaphern verstehen, aber dann muss man auch hinzufügen, dass alle darin enthaltenen Konnotationen von Destruktivität und Bedrohlichkeit erst im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der Moderne vollends zutage getreten sind.
  Der Mensch ist vermittels seiner leiblichen Existenz zugleich umweltgebunden und hinsichtlich seiner geistigen und sprachlichen Potentiale weltoffen, deshalb spricht Helmuth Plessner auch von seiner „exzentrischen Position“.
  Die Kulturalisierung des Menschen ist der historische Prozess, in dem sich ein leiblich zutiefst verletzbares und instinktmäßig unterausgestattetes, geistig hingegen überkomplexes und offenbar aus seiner Mängelverfassung heraus extrem herrisches Lebewesen an die Unterwerfung der Welt macht. Plessner spricht deshalb mit einem unübertreffbar genauen Bild vom „Prothesenproteus“ und bringt damit zum Ausdruck, dass die kulturellen und ökonomischen Schneisen, die wir im historischen Wandel in die Welt schlagen, die Gehkrücken sind, vermittels derer wir uns in der Welt nicht nur einfachhin einrichten, sondern sie uns damit Untertan machen, und dies mit einer wiederum offenen, aber damit auch jederzeit infolge der Folgen unserer eigenen Eingriffe riskanten Zukunft. Daran scheint die Dialektik unserer Verfassung auf - wir sind gefährdet und gefährdend in einem.
 
  Bis über die Mitte des 20. Jhrdts. hinaus ist die Schwerindustrie das mächtigste Zeichen des ökonomischen Triumphs über die Natur. Der dingliche Gigantismus dieser mechanischen Apparatur mit ihren an jeder Stelle ins Auge fallenden gewaltigen Räderwerken und Schrauben stellen die auftrumpfende Inszenierung unserer Weltunterwerfungsambition dar. So wenig sich vorstellen lässt, dass diese stählernen Monstren auf den ersten Blick etwas mit unserer physischen Existenz zu tun haben, so schlagend wird der Bezug im Zeichen des Prothesenbegriffs – sie sind das kompensatorische und unsere Krücken gleichzeitig überhöhende technische Gestell. Vermittels seiner Gewalt wurden uns Kräfte der Kulturalisierung und Naturbeherrschung verliehen, gegen die selbst die eines Herkules lächerlich erscheinen. Kaum andere Stoffe können unserer verletzlichen Leiblichkeit kontrastreicher entgegenstehen als Eisen und Stahl, aber gerade deshalb auch taugt ihre in der Apparatur gebändigte Gestalt zum unübersehbaren Zeichen des Triumphs unseres Verstandes über die Schwere der Materie.
  Ich frage mich, warum mich trotz meiner physischen Kleinheit angesichts der Ruine stets weniger Ehrfurcht als vielmehr ein seltsames Mitleid bei meinen Spaziergängen befiel. Es war nicht einfach die romantische Nuance der Wehmut angesichts der Relikte der Vergangenheit, sondern viel eher ein Gefühl bohrender und zäher Befürchtungen, das sich um die Frage rangt, welche Folgen denn wohl unsere ungebrochene Steuerungs- und Unterwerfungswut im Zeichen der zeitgenössischen Herrschaft von Microprozessor und Gentechnologie haben wird. Gemessen daran nämlich könnte es leicht sein, dass unser mittlerweile historisch gewordenes schwerindustrielles Spiel mit den Kräften der Natur und dem Schicksal des Menschen bei aller Schädlichkeit noch relativ harmlos gewesen sein mag im Verhältnis zu den proteischen Effekten, die der mittlerweile in der Gestalt der Mikroapparatur verpuppte Wille zur Macht zu zeitigen in der Lage ist.
 
  Von daher gesehen umgibt die Industrieruinen sogar ein gewisser Charme der Beruhigung. Sie erinnern an eine Produktivkraft, bei der wir der Beherrschung der Naturkräfte nebst damit angerichteten Folgen wenigstens sinnlich beiwohnen konnten, von ihrem höllischen Lärm über die erschöpften Gesichter der Arbeiter, bis zum Dreck auf den Balkonen und dem Staub auf den Schränken. Insofern war die 2. industrielle Revolution durchaus auch eine Epoche der Offenbarkeit unserer Eingriffe in die Welt. So gewaltig ihre Produktivkräfte auch in ihrer sinnlichen Gestalt gewesen sind, so dinosaurierartig veraltet und den aktuellen Produktionsverhältnissen und ihren Wirkungspotentialen unangemessen erscheinen sie uns heutzutage.
  Ganz anders sind die Bedingungen in der zeitgenössischen 3. industriellen Revolution. Unser Wille zur Welt- und Naturunterwerfung ist in die Dimension des Mikroprozessors bzw. der Mikrobiologie und ihrer verkleinerten Apparaturen ausgewandert. Sie stellen die Logik reiner Effizienz und reiner Abstraktion dar, im Verborgenen gelingt ihnen die Steuerung über eine numerische Matrix. Was wir sinnlich davon mitbekommen, liegt auf der Ebene bildlicher, telegener Simulation, vom Modell neuronaler Prozesse in Rattenhirnen bis zum Aufbau des menschlichen Genoms und dem fröhlichen Wachstum genmanipulierter Tomaten im Zeitraffer, die ansonsten so aussehen wie jede andere Tomate auch. Unsere heutigen Eingriffe spielen sich in der Tiefe ab und gehen, was die Manipulation der Natur angeht, im wahrsten Sinne an die Substanz. Ihre Wirkungen werden sich irgendwann sinnlich zeigen, wenn wir sie überhaupt im Sinne unserer Wahrnehmungsvermögen werden erfassen und differenzieren können, was allerdings mitnichten ausgemacht ist - Klonschaf Dolly lässt grüßen.
 
  Gemessen daran erschien mir der stumme, aber auch ungeheuer sinnliche Protz der Industriegiganten bisweilen geradezu niedlich, zumindest jagte er mir weniger Unbehagen ein, wobei dies gewiss auch auf den Status der Inaktivität zurückzuführen ist. Die Ruine erzählt die Geschichte einer einstmals sensationellen, sich mittlerweile aber erfüllt habenden Ambition. Es ist der dem Zeitalter Goethes noch ungeheuerlich erschienene faustische Wille, zu wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Dies entlockt uns heute keinen Schauer mehr, sondern höchstens ein Achselzucken angesichts immer neuer Triumphe von Wissenschaft und Forschung. Auf diesem Weg ist die Ruine nur ein historisch veraltet erscheinender Schritt.
  Der Unterschied zwischen den Effekten der Schwerindustrie und denen der mikroprozessorgesteuerten Natur- und Lebensbeherrschung ist allerdings klar -  die ersterer sind erkannt und klassifiziert, die letzterer sind ein historisch offenes Abenteuer. Allein die dinglichen Anhäufungen der mittlerweile globalisierten Massenfabrikation sind uns schon jetzt zum unübersehbaren Faktum geworden, nämlich neben all den anderen Müllhalden auch die zunehmenden Hinterlassenschaften des in multipler Gestalt vorliegenden Elektronikschrotts, der die Welt um keinen Deut weniger vermüllt als die Rückstände der Schwerindustrie, nur anders. Proteus lässt grüßen und bringt Prometheus vielleicht doch noch ins Grübeln darüber, ob und wie er dem Menschen sein Leben in einer zukünftigen 4. industriellen Revolution noch angenehmer machen sollte …….
 
  Am Ende meiner Lektüre bleibt die Ambivalenz und ist die Industrieruine beides - ein ungeheuer reichhaltiges Panorama, an dem sich die Freude der ästhetischen Wahrnehmung sowie der Entdeckung von faszinierenden fotografischen Bildern entzündet und das Zeichen einer destruktiven Weltunterwerfungsambition, an deren Ende im schlimmsten Fall die Unbewohnbarkeit der Erde stehen könnte. Fürs erstere tauglich macht sie ihre Harmlosigkeit als heutige Ruine und ihre kapitalistische Nutzlosigkeit im Verhältnis zu den aktuellen industriell-schädlichen Eingriffen in die Welt. Ihre Avancierung zum hiesigen Museum und ihre Inaktivität entbindet sie vom Makel der Schädlichkeit.
  Doch obwohl die Ruine verfällt, gemahnen die Spuren ihrer nachhaltigen umweltlichen Vergiftungen den zeitgenössischen Besucher stets an die unbelehrbare Bereitschaft des Menschen, wider besseren Wissens die eigenen natürlichen Lebensgrundlagen mit gnadenloser Konsequenz zugunsten eines gefräßigen Kapitalismus und eines ziellosen Wohllebens zu opfern. Die globalisierte Kontinuität der Zerstörung überlebt die Ruine, in der ihre Wirkung fortlebt und im besten dialektischen Sinne „aufgehoben“ ist, verpuppt in einer technisch verfeinerten Apparatur. Andererseits gibt es sie sehr wohl noch in genuiner Gestalt und voller Aktivität, nur weltregional verschoben. Im Ruhrgebiet stehen Ruinen, die friedvoll und nutzlos schweigen, in China, Indien oder der Ukraine käme heutzutage niemand auf die Idee, sie zu Ruinen zu machen, und dies wird auch noch länger so bleiben.
 
  Am Ende mündet meine Sinnsuche in ein Ergebnis, das mich in einen Zwiespalt führt zwischen Bildästhetik und Geschichte. Ich verdanke den Orten der Industrieruine wunderbare Fotografien, aber sobald ich den Apparat beiseitelege, finde ich mich wieder im Kontext moderner Industriegeschichte und ihren Konsequenzen. Diese scharfen Kontraste haben mich bei meiner foto- und videografischen Arbeit an diesen Orten stets begleitet. Die emotionale Dominanz melancholischer Bitterkeit resultiert am Ende aus der Erkenntnis, dass die verführerische Schönheit der Ruine stets eine ambivalente Sprache spricht - sie ist ein imposantes und prunkvolles Museum, das mit einer Vielfalt an sinnlichen Reizen aufwartet und zu nichts anderem dienlich zu sein scheint, als ästhetisch betrachtet zu werden. Aber ihre Natur als vergangen-gegenwärtige Produktivkraft verweist ebenso sehr auf die anhaltende Weltunterwerfungsambition und die ungebrochene industrielle Aktivität an anderen Orten der Welt. Es ist ganz so wie mit den Vulkanen -  die vor unserer eigenen Haustür sind erloschen, andernorts hingegen sind sie nach wie vor unheilvoll aktiv.
  Der Sinn der Industrieruine kündet so nicht nur von der Fortsetzung einer bestimmten Produktionsmethode, sondern auch von der global ungebrochenen, wenn auch zeitgenössisch weiterentwickelten Ambition, uns die Natur um jeden Preis Untertan zu machen. Wir alle sind keine Propheten, dafür aber aufgeklärte Zeitgenossen. Dennoch leisten wir uns als solche den Glauben, dass der historische Preis, den wir für unsere Eingriffe in die Welt zu entrichten haben, in einer unbestimmbaren Zukunft liege, obwohl wir alle längst schon ahnen, dass diese Zukunft sehr nahe ist.
  Eines aber steht jetzt schon fest: von den Freuden der Ästhetik und dem Luxus der Kunst werden wir uns am Ende nicht ernähren können, weder hier noch anderswo auf der Welt.   
 
Ralph Driever  -  November 2007