Ich habe diesen Text von vornherein als Polemik angelegt, um mich damit in eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Besonderheiten der digitalen Fotografie zu begeben. Ich fotografierte damals - entgegen der bereits zu dieser Zeit in vollem Gange befindlichen Digitalisierung der technischen Apparatur - konsequent analog. Dies schien mir historisch, ästhetisch und technisch als unverändert maßgeblich, um so die Potentiale der Fotografie adäquat auszuschöpfen. Meine Sorge galt der Gefahr, dass sie in den unerschöpflichen Potentialen der Computergrafik bis zu ihrer hybriden Wiedererkenntlichkeit untergehen könnte.

Dies hat sich längst bestätigt. Insofern stehe ich unverändert zu dem kritischen Impuls des damaligen Essays. Was sich seit langer Zeit in meiner alltäglichen fotografischen Arbeit geändert hat, ist die Tatsache, dass ich selbst heutzutage ausschließlich mit digitaler Apparatur unterwegs bin, da ich diese ebenso benutzen kann, wie ich damals den Film benutzte. Ich habe das Aufzeichnungsmedium gegenüber dem vorherigen gewechselt und bin dennoch der Intention treu geblieben, ein Foto als Darstellung des Realen zu verstehen. Da die Retouchen, die ich am Computer vornehme, lediglich die Parameter betreffen, über die man auch schon im klassischen Labor verfügte, halte ich die Manipulationsoptionen der Grafik weitestgehend aus meinen Bildern heraus.

Und doch bleibt das Essay in einer Hinsicht höchst aktuell. Für die Fotografie gibt es kein Zurück mehr hinter die Potentiale des Digitalen. Alle Fotos unterliegen unentrinnbar einem Zweifel, der sich nährt aus den historischen Gewissheiten, aus denen heraus wir davon ausgegangen sind, dass es so gewesen ist, wie das Foto es uns gezeigt hat. Diese Annahme ist nicht mehr möglich. Sämtliche digital erzeugten Fotos stehen aufgrund ihrer technischen Natur stets mit einem Bein im Gefilde des digitalen Konstruktivismus, in dem sie vermittels weniger Mausbefehle in der Fotosoftware von der Darstellung des Realen zu einer Erfindung mutieren können, von der man im besten Falle danach noch sagen würde, dass sie aussieht wie ein Foto. Diese Furie wird die Fotografie nie mehr los.

 

Ralph Driever – Februar 2018

 

Dieser Text wurde bisher nur bei Ausstellungen ausgehängt

 

 

RALPH DRIEVER

FOTOGRAFIE
oder
DIE VERFÜHRUNG DURCH DAS OBJEKT

I. Und wenn es eine reine Leidenschaft der Fotografie gibt ? Eine die nichts beweisen, nichts demonstrieren möchte, die sich dem schamlosen Projekt der restlosen Transparentmachung der Welt zu Zwecken der digitalen Information und Kommunikation verweigert, obwohl sie selbst auch im Medium des davon durch und durch infizierten Bildes operiert ? Wenn, dann ist es eine Leidenschaft, die von einer eigentümlichen, sturen Ehrfurcht vor dem schweigsamen Dasein der Dinge getragen ist, die sich entzünden läßt von der Ignoranz, mit der das Objekt uns begegnet, von seinem Auftauchen und seinem Verschwinden, seinem Schweigen und seiner Schönheit, seinem flüchtigen und zerbrechlichen Erscheinen.

II. Inmitten des Zeitalters digitaler Simulation gibt es eine Möglichkeit der bejahenden Wertschätzung des Realen. Im Reservat der Fotografie, das genauso zugrunde gehen wird wie jedes andere aus einer tödlichen Defensive geschaffene Reservat, hält sich einstweilen noch der Glaube an den Wert des Realen. Vom fotografischen Standpunkt aus ist das Objekt in seiner  Realität  nicht einfach nur da, sondern es ist auch in seiner undurchdringlichen, widerständigen Materialität ein ständiges Faszinosum. Das reale Objekt, gleichgültig und rätselhaft,  ist Heimstatt der Fotografie. All das, was der Logik der digitalen und massenmedialen Simulation mit der Hypergeschwindigkeit ihrer gefräßigen und maßlosen Bildersucht  als schwer und nutzlos  erscheint, als Hindernis auf dem Weg zur lückenlosen bildlichen Virtualität, bleibt in der Fotografie Ausgangspunkt und Horizont ihrer Bestrebungen. Das ist die Bodenständigkeit der Fotografie. Ihr Ort ist identisch mit dem  leiblicher Existenz. Jener nostalgische Ort, an dem ich mich, wenn ich es recht betrachte, zunächst und zumeist aufhalte. Ein Ort der Langsamkeit und der Entropie, ein Ort also diesseits der unendlichen und rasenden Konstruktivität digitaler Simulation, aus deren Sicht er letztlich nur als lästig und störend gelten kann.

III. Äußerst reduziert in seiner Materialität, hütet das fotografische Bild die Erinnerung an das Gewicht des Realen und entfaltet einen Dokumentarismus irdischer Sinnlichkeit. Daher auch hat das, was man in der Fotografie lernen kann so wenig zu tun mit apparativer Technik, dafür aber umso mehr mit der Herausbildung belehrten Sehens. Gewiß, wer fotografiert macht Bilder und schafft damit sinnhafte Objekte eigener Art. Aber die Konstruktion des fotografischen Bildes ist kein Selbstzweck, vielmehr vermittelt es nur die Treue zum Referenten. Recht betrachtet ist Fotografie ruhendes Andenken. Es ist ihre spezifische Dialektik, eigenständiges Bild zu sein und dabei auf Gegebenheiten zu verweisen, die als inhaltliches Substrat des Bildes keine bildliche Erfindung sind. Demgegenüber sind digitale Klone  anfällig für narzisstische Selbstreferentialität . So nährt eine Ästhetik verkörperter Existenz die Leidenschaft der Fotografie, in der eine gehörige Distanz gegenüber den Eigenmächtigkeiten „autonomer“ Bildgenerierungen waltet. Klar, dass man damit in der Kunst nicht reüssieren kann …….

IV. In der Fotografie triumphiert das Objekt mit der einnehmenden Kraft seines stummen Appells, sich ihm zu widmen, es zum Bild zu machen. Genau im Gegensatz zu den gängigen Künstlermythen ist in der Fotografie das Objekt der Künstler, der Apparat sein intimer Vasall und das fotografierende Subjekt im eigentlichen Sinne des Wortes das Unterworfene, also die Instanz,  die der Verführungskraft des Objekts unterliegt. Die Fotografie unterläuft die Führungsrolle des Subjekts und bewerkstelligt stattdessen im Zum-Subjekt-Kommen des Objekts dessen Verfügungsmacht über das Subjekt.  Statt also auf die Erlebnisse des Subjekts, setzen wir lieber auf die Ereignishaftigkeit des Objekts im plötzlichen Augenblick der Ankunft seiner Verführungskraft. Zweifellos ist jederzeit die Subjektivität des Fotografen im Verhältnis zum Objekt im Spiel, aber in dem Moment, wo er es gewählt hat, ist er bereits der Unterworfene. Es geht in der Fotografie nicht um die Ästhetik des Subjekts, es geht vielmehr um die Ästhetik des Objekts.
                                               
V. Fotografie ist Rückbindung an das Objekt, insbesondere sofern es sich den Ambitionen des Subjekts entzieht. Ihre Sichtweisen sind stets mit einer spezifischen Eichung des Blicks verbunden, eine Erschließung der Achtsamkeit für die Ankunft des Fremden und Anderen. Der fotografische Blick desensibilisiert das Subjekt für sich selbst und macht es bereit für die Empfängnis des Nicht-Subjektiven. Die  Sichtweise  des Objektivs renaturalisiert jedes Objekt, selbst wenn es inmitten einer Sphäre menschlicher Kultur steht.
Jetzt bin ich bereit, mich auf sein So-für-sich-Erscheinen einzulassen, ich kann gar nicht mehr anders, mein Wille ist schon besessen von ihm, und schon läuft das Spiel der Verführung.

VI. Das ist stets neu die fotografische Szenerie: das Objekt, das Licht und der Apparat, hinter dem der Blick lauert. Auf dieser Bühne bedarf es keiner weiteren Requisite, alles ist immer schon da. Hier regiert der reine Zufall. Der fotografische Akt vollzieht sich in jenem Augenblick magischer Plötzlichkeit, wo der Zufall zum Ereignis wird, wo durch die Vermittlung des Apparates das Objekt, das Licht und der Blick zu einer einmaligen, unwiderruflichen Konstellation des Sichtbaren verschmelzen. Das ist der Lohn einer geduldigen Achtsamkeit und der List des Apparates, die der unerbittlich verrinnenden Zeit einen Haken schlägt, indem sie ihr jenen strahlenden Augenblick des Jetzt entreißt, wenn das Objekt und das Licht ihre ganze verführerische Kraft entfalten. Natürlich rettet die Fotografie das Reale nicht vor den Klauen der Zeit, aber dafür bannt sie den Moment seines einmaligen Erscheinens.

VII. Attraktivität und schweigsame Fremdheit, beides sind die Insignien des Objekts. In dem Moment, in dem es seine Verführungskraft entfaltet, rückt es gleichzeitig in eine strahlende Ferne. Das Objektiv verweist auf das Objekt als ein stummes Faszinosum. Nur und gerade in diesem Augenblick höchster Gebanntheit durch das Objekt ist die Sprache machtlos und verstummt. Ansonsten spinnt sie unaufhörlich ihren Textkokon um die Produktion des fotografischen Bildes, zuvor mit ihren Darlegungen über seine Ästhetiken, Techniken und kulturellen Kontexte, danach mit dem Furor der Interpretation über Wert, Sinn und Bedeutung des Bildes. Die „Botschaft ohne Code“ (Barthes) ist nichts als ein sehnsüchtiges Wort, das die sprachlose Intimität von Objekt und Apparatur beschwört, eine Symbiose, die es gleichwohl jenseits der Attraktivität der Dinge nicht gibt.

VIII. Das ist das ganz und gar Irdische, besser gesagt „Erdige“ an der Fotografie: zu sagen, daß der Ort, an dem sie sich vollzieht das Reale ist,  heißt  stets  auch, daß  sie  im  Horizont der Dinge mit ihrer undurchdringlichen, rätselhaften  Materialität, der  Schwere  und  Trägheit  der Körper verbleibt. Das heißt allerdings auch, daß sie im Zeichen der Vergänglichkeit, des Verschwindens und des Todes steht. Daher rührt die eigentümliche Melancholie, die die Fotografie durchwebt. Wer beim Fotografieren nicht den Stachel der Zeit verspürt, kennt ihren existenellen Charakter nicht. Gleichwohl ist das Reale nicht das Gefängnis der Fotografie, sondern das unausschöpfliche Reservoir ihrer Erkundungen. Lieber also dem Realen mit all seinen Ausprägungen die Treue halten als sich der Logik digitaler Simulation anvertrauen, aus der unverkennbar die Sehnsucht nach  Sterilisierung des  Existenziellen  spricht, nach Verhirnung und Entkörperlichung, nach Leichtem und Seichtem. Man kann es auch anders ausdrücken: Fotografie ist der luxuriöse, unökonomische Widerstand gegen die Zerstückelung  und  Zurechtstutzung  der  Bilder  zu  Zwecken informativer Transparenz, eine Bildproduktion, die nicht ihre Herkunft verleugnet und deshalb den Sinn für die Rätselhaftigkeit und das Geheimnis der Welt bewahrt. Sich ihr vorbehaltlos auszusetzen, statt ihre digitalen Versatzstücke zum Spielmaterial elektronischer Malereien zu machen, ist das unermüdliche Motiv der Fotografie.

IX. Auch die Fotografie verwandelt das Objekt, indem sie an ihm die Transformation in den reinen bildlichen Schein vollführt. Aber da das fotografische Bild immer die Spur des  Objekts  ist, übt sie  niemals Verrat an ihm. Darum gilt, daß die Fotografie genau in dem Maße wie sie die einfallsreiche Verbündete des Scheins und der Oberfläche ist, stets auch die Verbündete des Objekts ist. Als Bild aber, als Statthalter des Objekts, als Anwesenheit des Abwesenden, ist die Fotografie von ihren technischen Möglichkeiten her stets dennoch anfällig dafür gewesen, einem hemmungslosen Illusionismus Vorschub zu leisten, einer täuschungswütigen Spielerei mit Bildern und Bildelementen, die sich vom Objekt entfernen, um selbst zum transparenten Objekt zu werden. Das ist die Gefahr, in der die Fotografie sui generis steht.  Sie kann leicht zum wuchernden Bildinzest werden, was sie degenerieren und gefräßig werden lässt. Genaugenommen hat die Fotografie stets ein Janusgesicht gehabt, einerseits von der einmaligen Verführungskraft des Objekts zu künden, andererseits der Furie einer in sich selbst verliebten Bildersucht zu unterliegen, und dies umso mehr als die digitale Technik ihr nunmehr unendliche Möglichkeiten bietet, sich in hemmungsloser Selbstreferentialität zu verlieren.

X. Im besten Fall ist die Fotografie der Versuch, in Treue zum Objekt diesem sein Geheimnis zu entreißen. Das Scheitern dieser Absicht gewährleistet den Willen zur Fotografie. Der Apparat ist lediglich der Meister der Oberfläche, alles was er im Bild bannt, ist das verführerische Scheinen des Objekts, dieser eine Aspekt seiner Präsenz aus dieser Perspektive, diese  Konfiguration des Realen, die  sich in diesem Licht zu einer unwiederholbaren   Konstellation   des  Sichtbaren  geformt  hat.
Obwohl der Apparat die technische Manifestation des Verlangens nach Enthüllung darstellt, verweigert er die Strategie der Enthüllung. Vielmehr inszeniert er als technisch konstruiertes Auge, das bei aller Abweichung zu dem unsrigen dennoch dem Reich des Sinnlichen verhaftet bleibt, nach einer reinen  Logik des Erscheinens die ständige Verhüllung des Objekts. Genau das  beschreibt die Komplizenschaft des Apparates mit dem verführerischen Spiel von Licht und Objekt. Dadurch, daß sich im fotografischen Bild das Objekt nur als facettenartige Spur seiner selbst darbietet, setzt es ein rastloses Begehren der Erkundung, eine unstillbare Neugier des Fotografierens in Gang, es in seiner absoluten, unüberbietbaren Fülle einzufangen. Was schon in den Akten unserer leiblichen Wahrnehmung angelegt ist, steigert sich in der Fotografie – das Verlangen, den Inbegriff der Realität zur Anschauung zu bringen.
Dieses unmögliche Begehren ist die Leidenschaft der Fotografie, in der somit eine tiefe intelligible Sehnsucht wirksam ist, der die Welt der Erscheinungen und unsere leiblichen Wahrnehmungsorgane niemals Genüge leisten können. So entpuppt sich auch ganz nebenbei der Glaube, Fotos seien „realistisch“, als höchst zweifelhaft und missverständlich.

XI. Es ist absurd, die Verführung durch das Objekt inszenieren oder planen zu wollen. Unmöglich zu sagen, wann das Objekt meinen Blick herausfordert – und welches es sein wird. Ich kann es nicht vor den Apparat zitieren, ich kann seine Faszination nicht bestellen, ich muß warten, bis diese bei mir ankommt, bis sie sich ereignet. Alles was ich brauche ist eine gleichbleibende, schwebende Achtsamkeit, ich muß mich auf gleicher Höhe mit dem Realen halten, in dessen Reich alle Objekte mit allen anderen konkurrieren. Nicht nur die Verbissenheit zerstört die plötzliche Verführung durch das Objekt, mehr noch tut es eine hierarchisierende Klassifikation der Dinge, die Würdiges von Unwürdigem trennt und dabei die Welt in Rangstufen zerteilt. Natürlich bin ich einer maßlosen Fülle und Dichte der Dinge überantwortet, natürlich drängeln und stapeln sie sich vor meinem Blick, natürlich droht meine Offenheit für  sie  von  ihnen  übermannt zu werden. Der Druck auf den Auslöser bleibt ungewiß, ich habe die sprichwörtliche „Qual  der Wahl“, ich  finde in  mir keine Entscheidungskriterien, oder wenn, dann nur um den Preis einer willkürlichen Strukturierung oder Begrenzung des fotografischen Horizontes. Es sei denn, ich verweigere die Entscheidung. Es sei denn, ich warte, bis das Objekt mich wählt, bis es sich plötzlich aus der Masse der Dinge heraushebt mit seinem nicht mehr abweisbaren Appell, es zu fotografieren.

XII. Und was ist mit dem Subjekt als Gegenstand der Fotografie? Nimmt es nicht traditionell einen einzigartigen Rang ein, der es heraushebt aus dem Dickicht der  Dinge? Und  zeugt nicht erst auch dadurch das Universum fotografischer Bilder von der Existenz einer vertrauten Welt des Humanen? Tatsächlich gibt es in der Fotografie keinen einzigen plausiblen Grund, das Menschliche bevorzugt zu behandeln. Im Gegenteil, von hier aus drohen ihr die größten Absonderlichkeiten, der ganze Plunder gewollter und überladener Inszenierungen vor dem Apparat, eine gezwungene Bedeutungsgebung um jeden Preis, die Falle des „psychologischen Blicks“, das Wesen der Person oder vergleichbare Derivate wissenschaftlicher Theorien visualisieren zu wollen. Auf diesem Wege nimmt die Fotografie einen demonstrativen Gestus an, sie wird aufdringlich und – „künstlerisch“. Immer wenn sie das Humane isoliert und übersteigert, verfällt sie dem Kitsch oder der Sentimentalität.

XIII. Im besten Falle besteht die besondere Rolle des fotografierten Subjekts darin, ein charmanter Mutant im Geflecht der Dinge zu sein. Aber erst inmitten der Dinge, umgeben und eingehüllt von ihnen, entfaltet es seine Reize. Erst als Facette des Objekthaften, als vielgesichtiges und bewegliches Objekt, hat es teil am Spiel der Verführung, von dem die Fotografie lebt. Nicht die Dinge sind Dekor für das Subjekt sondern umgekehrt. Sowenig der Fotograf die Fotografie dominiert, sowenig dominiert das Subjekt das Feld der  fotografischen  Objekte. Von  daher  ist  es  auch müßig, an ihm die Spuren des Vertrauten zu suchen. Das Subjekt auf einer Ebene mit den Objekten und daher selbst als Objekt zu sehen, bedeutet auch, es in seiner Befremdlichkeit und Rätselhaftigkeit anzuerkennen. Fotografisch ist es ganz und gar Fläche und Ausdehnung, Erscheinung des Realen, es ist da wie alles in der Welt, nicht mehr und nicht weniger. Es bedarf keiner „Tiefe“ im Umgang mit ihm, nur so vermag das fotografische Bild des Subjekts den Rang kontingenter Authentizität zu erlangen.

XIV. Dem Kult des fotografierten Subjekts entspricht auf der anderen Seite die Absicht, dem Objekt den Stempel des Fotografen aufzudrücken. Gemeinhin gilt es als ausgemacht, daß genau darin die „künstlerische Ambition“ der Fotografie liege, darin ihre „Kreativität“ - diese peinliche Ikone des zeitgenössischen Narzißmus - zu finden sei. Tatsächlich jedoch handelt es sich um den Versuch, das Spiel der Verführung umzukehren, was sich deutlich in jeder fotografischen Inszenierung ausspricht. Das Objekt soll mich so verführen, wie ich verführt werden will.  Was  dabei  herauskommt  ist ein fades Vergnügen: erst wird etwas hinter dem Busch versteckt und nach dessen Entdeckung zeigt man sich erstaunt über das, was man da entdeckt hat. So wird die Fotografie planmäßig, so  kann  sie sich  den  Anschein geben, als beherrsche sie das Objekt. Statt Ereignis zu sein und sich den Unwägbarkeiten des Zufalls zu unterstellen wird die Fotografie zum Kalkül. Keine Verführung mehr, kein Geheimnis – fotografische Asepsis.

XV. Falls die Fotografie Zeugnis ablegt, dann von der plötzlichen Attraktionskraft des Objekts, vom rätselhaften Erscheinen des Realen. Sie erschafft  wie alle Bilder Bedeutung aber sie stellt dem Subjekt kein Forum für seinen Selbstausdruck zur Verfügung. Vielleicht ist sie, um es in einem ethischen Begriff zu sagen, die einzige Praktik der Bilderzeugung, die in einer demütigen Haltung vor den vorgefundenen Konstellationen des Sichtbaren verharrt. Die Bedeutung des fotografischen Bildes geht aus vom Triumph der Dinge in ihrem Erscheinen. Die Bedeutung des Bildes liegt in dem Sog, der darin besteht, daß ich es immer wieder anschauen muß. Ich durchwandere es und im glücklichsten Falle lehrt es mich, auf  den  Geschmack  für das vielfältige Gewebe des Realen zu kommen. Nichts hindert mich daran, dieses mit den Potentialen des Imaginären im interpretativen Genuß des Bildes zu überschreiten. Der einzige „Sinn“ des Fotografierens  besteht letztlich in seiner Fortsetzung und dem Bewusstsein, selbstbewusst einen Beitrag zu dem ebenso reizenden wie nutzlosen „Spiel der Einbildungskraft“ (Kant) zu leisten, zu dem uns alle Bilder stets verleiten wollen.

XVI. Die telematische Raserei elektronischer Simulation wird früher oder später auch ihren Triumph über die Fotografie als Dinosaurier der technischen Bildproduktion feiern. Was der große Meteorit für die Dinosaurier  war,  wird  für  die  Fotografie die Digitalisierung des fotografischen Bildes sein. Zwar vermag auch die digitale Fotoapparatur in ihrer Zahlenmatrix die Spur des Objekts zu verwahren, aber sie kann auch unendlich viel mehr und anderes als nur dies. Der Sensor symbolisiert die unaufhebbar ambivalente Potentialität, die Judasnatur des digitalen Codes. Der elektronische Bildträger ist per Definition ein grafischer Mutant, der sich in unendlichen Varianten simulatorischer Verkettungen stets neu erschaffen kann und dem insofern eine Teleologie der Vernichtung des Dokumentarischen innewohnt. Mit der digitalen Fotografie droht die Fotografie endgültig in das Stadium ihrer Parodie überführt zu werden, und mit dem computergenerierten und manipulierten Bild überantwortet sie sich vollends der Logik der Simulation und deren Löschung der Differenz zwischen Wahrem und Falschem, Realem und Imaginärem. Warum sollte sich auch ausgerechnet die Fotografie dem Sog universaler Obszönität entziehen, das Mögliche und das Unmögliche einzuschmelzen im Delirium grenzenloser Verbildlichung? Leistet sie nicht bereits seit Jahren und schon mit ihrer konventionellen Technik in der Werbe-, Mode- und Edelphotographie ihren Beitrag dazu? Die verkaufsförderliche und marktgerechte Fotografie ist längst schon Beute einer betörenden Hyperästhetik, die der Motor für maßlose visuelle Wucherungen ist, einer Theatralisierung der Fotografie mit schrillen, grellen und immer ausgefalleneren Bildern, allesamt anfällig dafür, in Schönheit zu ersterben. Irgendwann fragen wir nicht mehr, ob es so, wie das Foto es zeigt, gewesen ist; irgendwann sagen wir nur noch: es ist so wie das Foto ist. Unabhängig davon, dass dies der Triumph des Ökonomischen über die Fotografie sein wird, wird es auch der Pyrrhussieg der Fotografie über die Malerei sein. Und die Maler werden höhnisch grinsen und sich ihren Teil dabei denken ….

XVII. Getrieben von ermüdendem Chic und verzehrt vom massenmedialen Styling der Hochglanzidyllen  prostituiert sich die Fotografie  schließlich  der digitalen Revolution.  Deren Lehre ist der elektronische Bildertaumel, das stets beschleunigte, autarke Kaleidoskop von Bildern, die aus den Bildern der Bilder entstehen, eine unendliche Collage visueller Versatzstücke mit unendlicher Variabilität, wo die einzige Referenz des nächsten Bildes das vorhergehende ist. Der Auftrag des digitalen Bildes, das ist die Herstellung einer lückenlosen Identifikation des Sichtbaren mit dem beliebig generierten Bild. Von der Fotografie bleibt höchstens die Hülle, der Glaube, daß etwas „wie ein Foto“ aussieht. Ihre Inhalte werden Opfer eines elektronischen Surrealismus, der technisch aufs äußerste raffinierten Simulation der Fotografie und der Malerei, ästhetisch um Klassen schlechter als jede herkömmliche Fotografie und Malerei, aber auch um Klassen an kombinatorischen Möglichkeiten reicher als diese. Die Fotografie erlischt und wird irreversibel zu dem, was sie oft so gern sein wollte - zur Kunst, unerkennbar synthetisiert in den Kanon der „neuen visuellen Künste“. Sie werden der unermüdliche Lieferant sein für einen starren, betäubten Blick, dessen einzige Norm die Indifferenz ist, und der sich gleichwohl nicht losreißen kann vom aufdringlichen Spektakel der Bilder.

Copyright:  RALPH  DRIEVER  (März 2002)
                                                 (überarbeitete Version 2009)