Überlegungen zu (m)einer fotografischen Haltung

- Auszüge -

Ich begreife mich als photographischen Amateur, wobei ich großen Wert darauf lege, diesen Begriff in seiner eigentlichen Bedeutung zu verwenden. Kurt Tucholsky hat einmal gesagt, dass Deutschland seit Jahrhunderten in zwei Lager zerfalle - Spezialisten und Laien. Das hat sich bis heute nicht verändert. Wer sich als Spezialist, am besten noch mit passender Ausbildung, ausweisen kann, ist sozial arriviert und akzeptiert. Alle Anderen, die auf einem thematischen Terrain mitreden wollen, sind Laien, d.h. sie betreiben ein „Hobby“ (und „sind“ eigentlich etwas anderes). Angesichts solcher Identitätsgefängnisse kann ich gar nicht anders, als mich demonstrativ als bekennender Laie zu verstehen. Als Liebhaber (lateinisch=Amator) der Photographie und des Sichtbaren bin ich dabei einem bestimmten Ansatz verpflichtet, der sehr schön in dem im Jahr 1930 formulierten Credo von André Kertész zum Ausdruck gebracht wird, dem ich mich gern anschließe. „Ich bin ein Amateur und beabsichtige, mein ganzes Leben ein Amateur zu bleiben. Ich weise der Photographie die Rolle zu, die Dinge in ihrer Eigentümlichkeit, die Seele, die sie offenbaren, festzuhalten; die Kunst des Photographen, so wie ich sie verstehe, besteht in einer unablässigen Erkundung, die Geduld und Zeit erfordert. Das Photo gewinnt seine Schönheit aus der Wahrheit selbst, deren Abdruck sie ist. Deshalb verwahre ich mich gegen jede Art von Tricks oder professioneller Virtuosität, die mich die Regeln überschreiten ließen, die ich mir selber gesetzt habe. Wenn ich das Motiv gefunden habe, das mich interessiert, überlasse ich es dem Objektiv, es getreu festzuhalten.“
 

Mich haben diese Sätze immer beeindruckt. Mit Blick auf ihr Wahrheitspathos stellt sich gleichwohl die Frage, ob sie heutzutage im Zeichen von Youtube und Facebook nicht naiv sind. Sind sie das? Die Frage ist nicht ob, sondern für wen. Kertész spielt vielleicht die Rolle von Candide, da er schon zur Zeit seiner Aussage die ideologiekritischen Einwände gegenüber der Fotografie hätte berücksichtigen können. So über die „Wahrheit“ der Fotografie zu reden, war schon zur damaligen Zeit der illustrierten, bereits massenhaft wirksamen und verkaufstauglichen Fotografie zumindest zwiespältig. Trotz alldem repräsentiert Kertész mit seinen Sätzen das Credo einer ernsthaften Fotografie, insofern er darauf beharrt, dass es in ihr darum gehen soll, der bildlichen Darstellung des Realen in der spezifisch fotografischen Weise zu ihrem Recht zu verhelfen. Und eben darin besteht ihre Ernsthaftigkeit. Kann so etwas heute noch funktionieren? Es kann, und das sogar inklusive der digitalen Apparatur, die - im Sinne von Kertész gehandhabt - genau die Leistungen zu erbringen vermag, die schon ihre analoge Vorgängerin lieferte.
 

Alle ideologiekritischen Ansätze haben immer wieder die Einlösung des  fotografischen Wahrheitsanspruchs  in Zweifel gezogen. Wann wäre dieser Zweifel berechtigter als heutzutage im Zeichen der digitalen Fotografie? Vermittels einer immer raffinierter operierenden Computergrafik ist es ihr jederzeit möglich, Bilder zu „erschaffen“, die keine Spur des Realen mehr sind, aber gleichwohl perfekt simulieren als wären sie solche. Aus diesem Grund aber auch schon mit Blick auf die labortechnischen Tricksereien der klassischen analogen Fotografie könnte man die Legitimität der Fotografie in toto in Frage stellen. Die immer wieder erhobenen Vorwürfe, ganz abgesehen von ihren Manipulationsoptionen, lauten: sie etabliere eine gleichzeitig distanzierende und kolonialisierende Beziehung zur Welt, in der alles unterschiedslos in Bilder eingedampft wird. Bei ständig wachsender Akkumulation von Fotos stehe am Ende ein zersplittertes Bild von der Welt, das verharmlost und unsere Aufmerksamkeit abziehe von den tatsächlichen Verhältnissen in ihr. Durch die längst vollzogene Integration in den Kanon von Ästhetik und Kunst verkleistere die Fotografie einen kritischen Blick auf die Dinge und lenke uns ab von den Widersprüchen und Ungerechtigkeiten in der Welt. Ich glaube nicht, dass sich diese oft formulierte Kritik an der Fotografie beiseiteschieben lässt, schon gar nicht mit Verweis auf ihre Popularität, die ja zumeist gerade vom leichtfertigen Umgang mit ihr zeugt. Man kann ihre feste Verankerung in den Klatsch und Tratsch der Hochglanzmagazine und sozialen Medien nicht einfach als Betriebsunfall abtun, all die Ent- und Verhüllungen, das ganze Spektakel medial inszenierter Bilderinzucht, von der global täglich milliardenweise produzierten Knipserei einmal ganz abgesehen.
 

All das gehört zum Universum der Fotografie. Wer ernsthaft fotografiert und sich angesichts all der Kritik an der Fotografie unbekümmert zeigt, fotografiert nicht ernsthaft. Aber wie will ich angesichts der täglichen Flut der Fotos eine Position einnehmen, von der her der Fotografie gleichwohl eine einsichtsfördernde, kritische Wirkung zugeschrieben werden kann, die darüber hinaus auch noch ästhetisches Vergnügen bereitet? Eine solche Positionierung der Fotografie kann nur jenseits eines unbedarften Umgangs mit ihr erfolgen. Fotografieren ist eben nicht knipsen, da ihm eine gehörige Portion von geschultem Blick, technischer Kenntnis und Erfahrung im Umgang mit den Potentialen der verwendeten Apparatur zugrunde liegt. Dies zu den Voraussetzungen. Und doch machen Knipser und Fotografen, rein technisch betrachtet, am Ende so ziemlich dasselbe, auch wenn sie unterschiedliche Bilder produzieren. Beide bedienen sich der Apparatur. Wer also den Wert ernsthafter Fotografie technisch legitimieren will, hat von vornherein einen schlechten Stand. Dies gilt gerade auch wegen der vielen klugen Leute in Internetforen, die phänomenale technische Kenntnisse über die Apparatur und dennoch  keinen blassen Schimmer von Fotografie haben. Um dieser zur Geltung zu verhelfen, kann man nur auf zwei Dinge setzen – die Qualität des eigenen fotografischen Konzepts und die Rezipienten, die die daraus resultierenden Bilder zu würdigen und ein herausforderndes Foto von grellem Chichi und gängiger Massenware zu unterscheiden wissen. Ohne die kritischen Rezipienten räume ich der Fotografie auf Dauer wenig Chancen ein, gegenüber willkürlicher und redundanter Bildproduktion zu bestehen. Die Fotografen können mit den interessantesten Bildkonzepten kommen, aber was nützt ihnen das, wenn sie am Ende die einzigen Rezipienten ihrer selbst sind? Esoterische Zirkel haben wir heute schon genug.
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Am besten nimmt man Zuflucht zur Deklarierung der Fotografie als Kunst. Dort ist sie seit geraumer Zeit bestens integriert und feiert seitdem am Kunstmarkt die größten Erfolge ihrer Geschichte. Damit scheinen die angesprochenen Probleme endgültig gelöst, zumindest aber könnte man sie für obsolet halten. Jedoch ist der Sog, den Begriffe und gerade auch Erfolge entfalten, oft trügerisch und oberflächlich. Meine Liebe zur Fotografie würde weder erklärt, noch befördert durch die Gewissheit, dass sie eine Kunst ist. Zudem ist dies seit ihrem Auftauchen notorisch umstritten. Allerhöchstens auf dem Kunstmarkt scheint der Punkt geklärt, da dort Sammler, Kritiker und Kuratoren berauscht sind von Bildern, die in ihrem digitalen Konstruktivismus aussehen wie Fotos und dafür als künstlerisch gefeiert werden. Unabhängig davon halte ich die Fotografie ungeachtet ihrer Digitalisierung wie eh und je für eine vermittels der Apparatur gegebene Möglichkeit, sich dem Erscheinen des Realen zu widmen, um es in einer bildkompositorisch überzeugenden Konstruktion darzustellen. Darin liegt die Motivation zu meiner Fotografie, alles weitere ist dem untergeordnet.
 

Obwohl ich ein Fan von Konzepten bin, waren diese nie apriorische Grundlage meines Fotografierens, sondern haben sich erst im Laufe meiner Arbeit ergeben und konkretisiert. Dennoch lässt die kategoriale Sortierung meiner Arbeit viel Raum für das einzelne Bild. Eigentlich bin ich von meiner Arbeitsweise her Flaneur, besser noch Streuner, der seinen Motiven dort nachspürt, wo er sich gerade aufhält. Da ich mich sehr gern den abseitigen und verkannten, in der Tradition der Malerei „pittoresk“ genannten Dingen widme, hat mich ein Besucher meiner Ausstellungen einmal einen ‚fotografischen Lumpensammler‘ genannt. Er wollte mich damit nicht beleidigen und erläuterte mir, warum er bei der Betrachtung meiner Bilder auf diese Idee gekommen ist. Mich hat er damit überzeugt und ich empfand seinen mir verliehenen Titel als Auszeichnung. Ich sammle fotografisch mit Leidenschaft das, was niemanden interessiert, zumindest nicht auf den ersten Blick. Ich glaube aber unverändert, dass es genau darin ästhetisch viel zu entdecken gibt. Obwohl heutzutage wohl fast jeder Quadratmeter der Welt fotografisch vermessen ist, gehe ich immer noch davon aus, dass es möglich ist, im Bild etwas vom Realen darzustellen, dass man so noch nicht gesehen hat und die Aufmerksamkeit des Betrachters zu wecken vermag. Solange ich davon ausgehe, werde ich weiterhin fotografieren.
 

Mit dem auch von mir schon oft gemachten Hinweis, mich in der Fotografie der Erkundung des Sichtbaren zu widmen, bin ich ideologiekritisch mitnichten aus dem Schneider. Welcher Fotograf würde für sich nicht in Anspruch nehmen, das Sichtbare zu fotografieren, selbst wenn dieses ohne aufwändigste, am besten noch digital garnierte Inszenierungen niemand jemals zu Gesicht bekommen hätte? Ich denke in diesem Zusammenhang oft an den Satz von Karl Valentin „Kunst ist schön, macht aber auch sehr viel Arbeit“. Da ich bequem bin, muss ich derart verschlungene Wege nicht gehen. Als Fotograf kann ich der Welt an jeder Ecke begegnen, wenn ich nur achtsam bin.
 

Ich fotografiere als gelernter Philosoph, und was die als erstes lernen ist, sich gegenüber herrschenden Ansichten über die Welt kritisch zu verhalten. Das ist das Minimum einer philosophischen Einstellung gegenüber den Dingen. Da Weltsichten in gar keiner Hinsicht hintergehbar sind, gibt es auch in gar keiner Hinsicht eine voraussetzungslose Einstellung gegenüber der Fotografie. Will man Fotos verstehen, ist es hilfreich, die Haltung der Fotografierenden zu kennen, sowohl die im Verhältnis zu ihrer fotografischen Praxis als auch die gegenüber der fotografischen Tradition. Sollte man feststellen, dass von beidem nichts vorhanden ist, rate ich zur Vorsicht. Wer in Unkenntnis seiner eigenen Einstellung, also unreflektiert fotografiert, verfällt zumeist gängigen Clischés  übers Fotografieren und ist Knipser. Das sollte die Parteigänger einer reflektierten Haltung gegenüber der Fotografie aber keinesfalls frohlocken und überheblich werden lassen. Ihre Position gegenüber der Fotografie ist eine reflektierte - damit ist sie aber genau so wenig voraussetzungslos wie die der Knipser. Vorsicht also vor Clischés, Vorsicht aber auch vor dünkelhaften Rankings, da für alle gilt, dass sie nicht „rein“ ans Fotografieren gehen. Weder helfen Abwertungen, noch das Pochen auf Unbedingtheit, um Fotografie vom Knipsen zu unterscheiden. Vielmehr gilt es immer wieder, die vorbildlichen Bildschätze der Tradition sowie ihre historischen Konnotationen in Stellung zu bringen, die anhaltende Faszination, die all das immer noch auf Betrachter auszuüben vermag. Das macht den Unterschied. Fotografie besticht vom Ergebnis her und dem, was das beim Betrachter auslöst. Eine gute Fotografie ist eine kleine Geschichte über die Welt und darüber, wie sie aufgefasst und dargestellt werden kann. Und genau in diesem Sinne schärft sie den Blick auf die Dinge. Nichts anderes meint der oft verwendete Ausdruck, dass die Fotografie eine „Schule“ des Sehens sei.
 

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Die Fotografie ist realistisch? Unmöglich! Behaupten kann das nur, wer das ‚Was‘ unseres Sehens mit dem ‚Wie‘ verwechselt - das Terrain der Fotografie ist lediglich letzteres, allein schon deshalb, weil wir keine Fotografie ohne Apparatur machen. Fotografie ist eine entwickelte Form des Sehens, alles Wesentliche geschieht in ihr vor dem Druck auf den Auslöser. Wer fotografisch sieht, beschäftigt sich mit dem Blick, alles weitere ist mechanische Folge. Massimo Cacciari – übrigens einst Bürgermeister von Venedig - hat einmal gesagt: „Aber das, was an der Fotografie am meisten beunruhigt, ist ihre absolute Abstraktion, ist, dass sie auf keinen Fall Duplikat dessen ist, was ist, sondern eine neue Realität vorlegt.“ Welche? Die des Bildes, so sehr sie auch Bezug nimmt auf das Reale, das sie darstellt. Die Surrealisten um Breton haben die Fotografie deshalb so geschätzt, weil sie wussten, dass es keine andere Bildkunst gibt, die so surrealistisch ist wie die Fotografie. Ein Medium, das das von ihm Dargestellte derart parzelliert und atomisiert, kann gar nicht anders als surrealistisch sein. Der Malerei, ganz unabhängig vom gleichnamigen Malstil, in der gleichen Weise Surrealismus zuzuschreiben, wäre unsinnig, da ihr Bezug zum Realen durch ihre Natur als handgemachte Erfindung anders vermittelt ist als die Fotografie. Das fotografische Bild ist und bleibt Wiedergänger des Realen, aber durch seine Ausschnitthaftigkeit und Dekontextualität schafft es ein Bild, das alles andere ist als Abbild, sondern Reduktion, die uns gleichwohl glauben macht, dass sie abgekupfert ist vom Realen. Wir haben all das, was auf einem Foto zu sehen ist, irgendwie schon einmal gesehen …… In diesem ‚Irgendwie‘ offenbart sich die Besonderheit der Fotografie und die Unmöglichkeit ihres ‚Realismus‘. Im besten Fall sehen wir auf einem Foto etwas, das uns vertraut vorkommt, das wir aber so noch nicht gesehen haben und dies schlicht deshalb, weil wir auf ein Bild schauen, auf eine Darstellung, und nicht auf das Dargestellte. Da aber genau dieses in das Gewebe der Darstellung eingelassen bleibt und uns also nicht nur nicht loslässt, sondern immer wieder in seinen Bann zieht - ist eben das der Grund für den Surrealismus der Fotografie. Das fotografische Bild ist Fragment und gerade deshalb kann es ohnegleichen die Magie des Realen heraufbeschwören.
 

Die Frage von Betrachtern meiner Fotos, die mir am häufigsten gestellt worden ist, ist die folgende: „wo ist das aufgenommen“? Diese Frage gibt es nur bei Fotos. Keiner würde diese Frage bei der Malerei stellen, nicht einmal beim sogenannten malerischen Fotorealismus. Anders gesagt, bei der Malerei ist nicht die Rede vom Bild als Fragment, da jedes Bild für sich selbst steht und nicht danach gefragt wird, welchem Kontext der sichtbaren Welt es entnommen worden ist. Hier bietet sich eher an zu fragen, welche Bedeutung das Bild hat, was der Malende seinen Betrachtern damit hat mitteilen wollen. An solchen Fragen erkennt man, dass die Fotografie das Reale nicht los wird, da es ihr anhaftet. Davon profitieren auch die Parteigänger digitaler „künstlerischer“ Fotografie speziell dann, wenn sie ihre Bilder so konstruieren, dass man ihnen sofort abnimmt, dass sie Spuren des Realen sind. Wie auch immer, die Fotografie in all ihren Formen kann gar nicht anders als Verweis auf das Reale und gleichzeitig surreal zu sein. Susan Sontag hat gesagt, „dass nichts besser dafür ausgerüstet ist, die surrealistische Betrachtungsweise anzuwenden, als die Fotografie.“ Dieses Zitat stammt aus den 70er Jahren des letzten Jhrdts. als es noch keine digitale Fotografie gab. Und doch gilt es umso mehr auch mit Blick auf die digitale Fotografie, die den herkömmlichen fotografischen Surrealismus nur noch überhöht. Hätte Sontag die Optionen der digitalen Fotografie gekannt, hätte sie sich wohl endgültig von der Fotografie abgewandt, obwohl sie von ihr so sehr fasziniert war. Man mag von der digitalen Fotografie halten, was man will, aber sie vollendet mit ihrer in der Computergrafik begründeten unendlichen Kombinatorik von Bildelementen den Surrealismus der Fotografie – und rettet dabei paradoxerweise durch Verweis auf das Reale die Erbschaft der klassischen Fotografie. Denn genau dies, das Reale darzustellen und es gleichzeitig als Fragment zu transzendieren, war immer schon ihre Natur.
 

Kein Foto kann jemals „alles“ zeigen, auch wenn dies der Traum der Fotografie ist. Diese ist im Gegenteil höchst beschränkt und kann mit ihren apparativen Darstellungsmöglichkeiten nie anders als in ihrer Selektivität magisch das Reale zu beschwören und damit surrealistisch sein. Im Gegensatz zur Malerei ist die Fotografie ein Medium, dass von seiner technischen Natur auf darstellerische Totalität angelegt ist und am Ende selbst mit ihren größten Weitwinkelobjektiven doch nur bildliche Ausschnitte präsentieren kann. Bei der Malerei sind Diskussionen über Bildausschnitte absurd, weil sie nicht mit der Bürde der Darstellung des Realen konfrontiert ist. Malerei als Zeichen ist Interpretation, Fotografie ist Zitat. Diese haben es an sich, dass man stets wissen möchte, aus welchem Kontext das Zitat ursprünglich stammt. Und sie wecken die Neugier auf das, was nicht zitiert worden ist. Wer fotografisch Geschichten erzählen möchte, hat gegenüber der Malerei einen schweren Stand. Während das gemalte Bild das Narrative der Phantasie den Betrachtern überantwortet, erwarten diese von der Fotografie das nächste Bild, um die Lücke der Darstellung zu schließen. Genau das ist der Grund, warum die Fotografie gut beraten ist, wenn sie keine Geschichten erzählen will. An dieser Stelle ist es für Fotografen enorm verlockend, auf die darstellerischen Potentiale der Sprache als Additiv zum Bild zurückzugreifen, um der Fotografie narrativ auf die Sprünge zu helfen.  Schon die Titulierung von Fotos geht in diese Richtung, speziell wenn sie über eine Ortsangabe hinausgeht. Ich verlasse mich darauf, dass das Narrative nicht etwas ist, das ich als Fotograf liefern muss, sondern etwas, das die Betrachter aus meinen Bildern in ihrer Rezeption machen. An genau diesem Punkt sehe ich schließlich keinen Unterschied zur Rezeption der Malerei. Geschichten sind beheimatet im Bereich des Imaginären. Dies wird aufgerufen durch Sprache und Bild, aber nicht notwendigerweise durch die Verquickung beider. Am Ende gilt die Volksweisheit: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
 

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Da ich stets eine Kamera bei mir führe, ist die fotografische Tätigkeit in mein alltägliches Leben integriert. Insofern stellt sie für mich nichts Besonderes dar. Sie ereignet sich aus dem Stand, je nach der sich bietenden Konstellation der mich umgebenden Wirklichkeit, die plötzlich zusammentrifft mit meinen ästhetischen und konzeptuellen Interessen. Das ist der Moment, wo ich mich herausgefordert fühle und auf den Auslöser drücke. Wenn ich fotografiere, bin ich draußen. Ich habe nur sehr selten im Studio gearbeitet und ich glaube nicht, dass sich das ändern wird. Fotografie ist für mich eine Art Referenzerweisung gegenüber dem Realen, in das ich mich begebe, ohne es zuvor zu inszenieren. Dabei ist sie nicht weniger selektiv und subjektiv als die Malerei. Sie zeigt in bildlicher Verdichtung Facetten des Erscheinens der Dinge, die für den Fotografen aus seiner Sicht und Einstellung verlockend und interessant sind. Der Sinn des fotografischen Bildes ergibt sich in der Rezeption aus dem, was der Betrachter für sich daraus macht. Was der Fotograf als Rezipient daraus macht ist lediglich seine Sache, die keinerlei Vorrang gegenüber der Sichtweise aller anderen hat. Gegenüber den Rezipienten hat der Fotograf über seine Bilder zu schweigen. Die Rezeption der Bilder ist demokratisch, alles andere läuft auf Esoterik und Spezialistentum hinaus, worauf ich in jedweder Hinsicht gern verzichte.
 

Am Spannendsten finde ich an der Fotografie, zu sehen, wie die Dinge aussehen, wenn sie fotografiert sind. Außerdem halte ich es für wichtig, niemals zu vergessen, dass man mit dem Fotografieren auch jederzeit aufhören kann. Wie im Verhältnis zu jeder Liebe schafft das eine Unabhängigkeit, die der fotografischen Tätigkeit zugute kommt.
 

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Jedes Bild ist „flache Tiefe“ (M. Polyani). Ich kenne keine kürzere und treffendere Definition des Bildes. Gilt das auch für die Fotografie? Kann ein Foto, dem sein Referent so sehr anhaftet, offen sein für einen Sinnüberschuss? Kann es uns, um mit Gottfried Boehm zu reden, „Zugang zu unerhörten sinnlichen und geistigen Einsichten eröffnen“, so wie Boehm es über die Malerei gesagt hat? Wir schauen auf etwas, das breit und hoch, in jedem Fall zweidimensional ist, und gleichzeitig trägt uns das sichtbare Bild hinaus über das, was es uns zeigt, weil es etwas bedeutet. Das Bild ist ein Wink über es selbst hinaus, und genau in dieser Differenz zwischen dem, was es als Gegenstand ist und dem was es auf seiner Fläche darbietet, liegt seine Besonderheit zu allem Nichtbildlichen.  Wir schauen auf das, was wir sehen, und gleichzeitig schauen wir auf das, was wir hinzudenken und hinzufühlen. Das ist das wunderbare Spiel der Einbildungskraft, das am Werk ist in der Aneignung des Bildes. Gilt all das auch für die Fotografie? Erstickt sie nicht ihre Sinnpotentiale durch die unmittelbare Evidenz der raschen Wiedererkennbarkeit dessen, was sie darstellt? Ist vielleicht ihre im Verhältnis etwa zu abstrakten Bildern leichtere Lesbarkeit ein Makel?
 

Ich denke nein. Es gibt keine Semantik des Bildes ohne die Betrachter. Sie sind es, die das Bild mit Bedeutung aufladen. Es ist ganz und gar Projektionsfläche für Interpretationen. Semantik ist keine „objektive“ Eigenschaft von Bildern. Sie bleiben solange einfach nur materielle Objekte in der Welt, wie sie von Betrachtern nicht „erweckt“ werden. Ich sehe ganz ungeachtet von der der Fotografie fälschlicherweise so penetrant zugeschriebenen „Objektivität“ keinen plausiblen Grund, warum all dies für das Foto nicht gelten sollte. Im Übrigen ist an dieser Stelle eines vollkommen egal: ob wir ein Bild, etwa weil es zu Zeiten der analogen Apparatur aufgenommen wurde, gewohnheitsgemäß als „Foto“ identifizieren und auffassen, oder ob wir ein Foto als „künstlerisches“ Bild rezipieren - und d.h. heutzutage Fotos, die nicht nur mit digitaler Apparatur gemacht wurden, sondern zumeist auch Resultat computergrafischer Interventionen und bildkompositorischer Manipulationen sind  - in dem Moment, wo wir uns fragen, „was bedeutet dieses Foto für mich?“ beginnt das Spiel der Interpretation ganz ungeachtet von Fragen der Technik. Dieses Spiel wird von den Beteiligten ganz unterschiedlich gespielt, denn sie treten in dieses Spiel mit unterschiedlichen Einstellungen und Haltungen ein. Wie weit Bilder die Einbildungskraft ihrer Rezipienten beflügeln, hängt zum großen Teil von diesen, nicht von den Bildern ab.
 

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Als Fotograf brauche ich die spezifische örtliche und räumliche Atmosphäre des Realen, die ich in ein Foto zu übersetzen suche. Ich will niemandes Arbeit diskreditieren, aber mir ist das Jonglieren mit digitalen Versatzstücken oder gar die vollständige Generierung des Bildes aus der Computergrafik, das dann „wie ein Foto“ aussehen soll, tief zuwider. Für mich hat das mit Fotografie nichts mehr zu tun, sehr viel dafür aber mit „elektronischer Malerei“. Ich habe es immer als peinlich empfunden, wenn Fotografen vermittels einer Maschine versuchen, die Verfahren der Malerei zu imitieren, also handgemacht und ohne bereits gegebene Vorlage ein Bild zu erschaffen. Alles, was mir dazu bekannt ist, läuft am Ende darauf hinaus, das solche „Fotografien“ nicht über den Darstellungsmodus des Fotografischen hinauskommen, weil sie deren Mustern am Ende doch nicht entkommen, aller Digitalisierung  zum Trotz. Alles muss so aussehen „wie ein Foto“ und zugleich sollen sich die Betrachtenden die Frage stellen „war es wirklich so“? Diese Art Fotografie spielt also mit Potentialen, die zu ihren ältesten Paradigmen zählen (Barthes lässt grüßen) und versucht sie gleichzeitig hinter sich zu lassen. Zweifellos könnte man anführen, dass die Frage „und wenn es so gewesen wäre?“ für die Betrachter reizvoll ist, aber was habe ich für die Rezeption denn gewonnen,  wenn die digitalen bildlichen Versatzstücke schließlich doch wieder wie Fotografien aussehen, nur dass sie jetzt dem nur computergrafisch realisierbaren gestalterischen Willen des PC-Bedieners (=Fotografen) entspringen? Was weiß ich infolge dessen mehr über die Welt? Was ich dabei hingegen zweifellos erfahre ist, welche ungeheuren Potentiale in der Computergrafik stecken.
 

Ich frage mich im Verhältnis zu den technischen Praktiken der klassischen Fotografie nach dem ästhetischen Mehrwert derart generierter Bilder. Worin besteht ihr Überschuss , außer darin, den ohnehin schon gegebenen Surrealismus der Fotografie auf die Spitze zu treiben? In der Tat, spätestens mit der digitalen „künstlerischen“ Fotografie wissen wir, dass das Foto sich weitestmöglich vom Realen entfernt - und gleichzeitig doch von seiner Darstellung profitiert. Alle heute am Markt erfolgreichen Fotografen spielen genau damit. Die Lücke zur Malerei schließt diese Art der Fotografie immer noch nicht, obwohl sie Methoden der Malerei simuliert. Wollte man ungeachtet dessen behaupten, dass sie eben die zeitgenössische Form der Fotografie ist, tritt sie sofort in Konkurrenz zur klassischen. Ich wage zu behaupten, dass sie dabei nicht per se die besseren Karten hat. Weder das eine, noch das andere zu sein, oder aus beidem ein bisschen, nennt man zoologisch Bastard. Zweifellos gibt es reizende Bastarde, und doch  erinnern mich all diese so entstandenen Bilder auf fatale Art an Suchbilder aus meiner Jugend, wo man in Zeitschriften zwei Malereien nebeneinander stellte und die Betrachter aufforderte, in einem der beiden einen Fehler im Verhältnis zum Original zu entdecken. Damals gewann stets das Original, heute triumphiert das Hybrid. Mich überzeugt dieses Verfahren nicht, und wenn darin sein Kunstcharakter liegen soll, wirft das für mich sehr grundlegende Fragen auf, in erster Linie die, ob es wirklich um Potentiale und Qualität der Bilder, oder um ihre Verkaufstauglichkeit und die Bedarfe des Kunstmarktes geht. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden, aber die Adepten des digitalen Konstruktivismus müssen sich gleichwohl die Frage gefallen lassen, ob und inwieweit ihre Bilder eine sensitiv und geistig gehaltvolle Aussage über die Welt machen, oder ob sie nicht vielmehr im Orbit selbstverliebter digitaler Ornamentik stecken bleiben, die sich lediglich gut verkauft. Die Antwort auf diese Frage bleibt einstweilen historisch offen.
 

Alle Adepten des Digitalen sind von einem ihnen nicht bewussten Platonismus inspiriert. Sie missachten den Leib, mit dem wir verwurzelt sind in der Welt, und damit nicht nur dessen, sondern auch die Physikalität des Blicks. Zumindest ist ihnen der Leib lästig, wie alles Schwere, dass sich nicht per Knopfdruck verändert oder umprogrammieren lässt. Dabei stellt mein Leib doch mit all seinen Potentialen, aber auch all seinen  Gebrechen meine persönliche Existenz dar. Die gesamte Rhythmik meines Lebens ist die meines Leibes. Auch mein Blick ist ein verkörperter Blick; es ist mir nicht möglich, die Welt in der Art einer 360° Kamera zu erblicken. Es gibt ihn für mich nur in seiner Gebundenheit an die jeweilige Position meines Leibes in der realen Welt. Alles was ich sehe ist stets abgeschattet und ich muss mich bewegen, um das, was zuvor meinem Blick entglitt und von dem ich höchstens wissen oder annehmen konnte, dass es auch noch sichtbar ist, tatsächlich wahrnehmen zu können. Der Traum des Digitalen ist demgegenüber die totale, unvermittelte Ansichtigkeit - und damit auch die Kontrolle - des Sichtbaren, eine jederzeit verfügbare Transparenz all dessen, was ich, potenziert über gestaffelte Monitore, jederzeit sehen kann.  Keine Frage, dass dies auf die vollkommene Anästhetisierung des Blicks hinauslaufen würde, auf seine endgültige Übersättigung und Differenzlosigkeit.  Wer alles sieht, hat keinen Bezug mehr zur Spezifik der Dinge, alles ist da und damit austauschbar. Wir sollten nicht übersehen, dass darin eine verborgene Ambition perfektioniert wird, die eigentlich von Beginn an in der Fotografie angelegt war, nämlich eine vollständige Kartographie der Oberfläche der Dinge zu erzielen.
 

Sind wir jetzt also beim gängigen digitalkritischen Alarmismus angelangt?  In keiner Weise. Das Digitale wird überschätzt, da vergessen wird, dass seine Apparatur Mittel in der Hand menschlicher Benutzer ist. Erst, falls es dazu kommt, wenn vollständig digitalisierte Akteure sich in toto in digitalen Umwelten bewegen,  müsste die Rechnung neu gemacht werden. Solange vor den Monitoren verkörperte Individuen sitzen, so sehr sich diese auch 3-D-Brillen aufsetzen, so sehr werden sie, im Moment wo sie diese wieder ablegen, erneut im Hier und Jetzt landen - die Gravitation lässt herzlich grüßen. Und in genau dieser Welt werden sie Fotografie betreiben, selbst wenn sie die Fotosoftware dazu nutzen, Bilder zu generieren, die aussehen wie Bilder von genau der Welt, deren gegebene Oberfläche sie darstellerisch in Abrede stellen und gleichzeitig vermittels digitaler Konstruktion erneut evozieren. Nun, auch die „Kunst“ ist ganz und gar von dieser Welt….
 

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Dass sich die Welt schon seit mindestens 90 Jahren ein „Fotografiergesicht“  (S. Kracauer) zugelegt hat und die wohl meisten Menschen selbst fotografieren - allein schon vermittels Smartphone - halte ich nicht für einen Grund, die Fotografie als welterschließendes Erkenntnismedium zu verwerfen. Schon immer war ihre Popularität ein Hindernis für ihre kritischen Potentiale, die uns im Bild Dinge zu sehen geben, die wir in unserer alltäglichen Wahrnehmung leichthin übersehen. Hat ihr das jemals geschadet? Es ging und geht nicht darum, ob, sondern was und wie fotografiert wird und welches Konzept dahinter steht. Zudem lehrt uns die Pragmatik der Fotografie, dass es zu viele unterschiedliche Verwendungen und damit verbundene Ziele der Fotografie gibt, um sie am Ende in die Fotografie zusammenfassen zu können. Das wird in ihrer „künstlerischen“ Sparte gern ignoriert, weil man auf Alleinstellungsmerkmale erpicht ist. Ich setze auf den kritischen Geist der Rezipienten, nicht auf die Machart von Fotos, die scheinbar von sich aus darauf verweisen, „Kunst“ zu sein. All das sind naive Mythen. Ich für meinen Teil war und bin unverändert vernarrt in die Welt, der ich alltäglich begegne. Mir geht es unverändert darum, mich von dieser einen vorgefundenen und stets singulären Konstellation des Sichtbaren verführen zu lassen, um sie dann in eine komponierte Bildwirklichkeit zu übertragen. Die Frage ist, worauf ein Fotograf sein Objektiv richtet, und ob er es auf die Welt richtet, in der er alltäglich unterwegs ist, oder ob er sich lieber auf andere Quellen für die Generierung seiner Bilder stützt.  Heutzutage  kann er auch am Computer sitzen und „Fotografien“ entweder in toto aus digitalen  Versatzstücken generieren, oder sie aus Versatzstücken von Bildern des Realen komponieren (Andreas Gursky lässt grüßen). Das alles gilt als Fotografie. Man muss sich entscheiden. Ich habe mich entschieden, ohne damit andere sogenannte fotografische Optionen zu diskreditieren.
 

Für mich stellt die Fotografie eine bildliche Möglichkeit dar, mich mit dem Sinn des Realen auseinandersetzen zu können. Wobei man an dieser Stelle sofort die Frage stellen kann, von welcher Wirklichkeit ich rede. Nun, von der, an der ich mich „stoßen“ kann, also von der, in der ich in zumeist und zuerst lebe, also der bei aller Digitalisierung von Lebensverhältnissen und Weltbezügen althergebrachten ‚analogen‘ Realität. Diese - und nur diese -  ist für mich die Heimstatt der Fotografie, ihr Ausgangspunkt und ihr Horizont. Ich halte die Fotografie für ein philosophisches Forschungsmedium, das mir in schönster Eintracht zweierlei bietet -  Ansichten der Welt und Einsichten über sie, und mir obendrein noch ästhetischen Genuss verschafft. Wobei eine ernsthafte Fotografie sich hüten sollte vor der vorherrschenden Fotomagazinbildästhetik oder der der Werbung, bei der zumeist nur Seichtes und Gefälliges herauskommt, aber so gut wie nichts, was den Geist der Betrachter herausfordert.  Hübsche Bildchen gibt es genug, diese kann man den Knipsern überlassen. Wobei man sich angesichts der  medialen Verbreitungsmöglichkeiten derartiger Fotos und deren Einfluss auf das Verständnis des fotografischen Bildes keinen Illusionen hingeben sollte. Leichte Kost verdirbt und prägt massenhaft den Geschmack, damit wird man leben müssen. Nur gut, dass es genügend Leute mit eigenem Urteilsvermögen gibt.
 

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Gibt es eine Ethik der Fotografie? Wenn wir darunter einen definierten Kanon moralisch relevanter Regeln verstehen ist die Antwort ganz klar - nein. Eine Minimaldefinition von Moral ist, dass in einem gegebenen Handlungsfeld alle Interessen der beteiligten Akteure berücksichtigt werden müssen. Im Licht dieser Definition fällt die Bilanz der Fotografie höchst bescheiden aus. Es gilt zu unterstreichen, dass moralische Fragen im Zusammenhang mit der Fotografie nur da auftauchen, wo gezielt Menschen in ihren jeweilig konkreten Lebenssituationen fotografiert werden. Klammern wir also die Darstellung des Dinglichen an dieser Stelle aus. Die Fotografie hat von Beginn an gemacht, was ihr technisch möglich war. Bei Krieg, Unfall, Mord und ähnlichen Ereignissen war und ist sie stets zur Stelle - und viele ihrer Vertreter haben daraus am Ende noch richtig gute Fotos gemacht. Sie hat gezeigt was sie zeigen konnte, menschliches Unglück war nie ein Grund, aufs Fotografieren zu verzichten.  Ihr größtes Problem ist - und da ist sie erneut sehr weit von jeder Malerei entfernt - dass sie mit dem, was sie abbildet, unvermeidlicherweise eine Art Komplott eingeht. Ohne ihre Vorlage im Realen ist sie nichts und deshalb kann sie gar nicht anders als im Moment der Aufnahme, das, was sie vorfindet, zu bejahen. Wäre es anders, gäbe es keine Fotografie, auch wenn dies mit Blick auf ihre digitale Variante zu relativieren ist. In Überspitzung der Kritik von Susan Sonntag könnte man sagen, dass sie der größte Parasit aller Bildherstellung ist. Die Malerei kann warten, weil sie ihre Darstellungen erschafft, die Fotografie nicht, da sie davon abhängt, was sie vorfindet. Als Medium ist sie notwendigerweise indifferent gegenüber dem, was sich vorm Objektiv präsentiert - wichtig ist, dass es da ist.
 

Darin liegt die Grundlage für den Voyeurismus der Fotografie, und darin auch der Grund für ihre moralische Anrüchigkeit. Das Potential der Fotografie besteht darin, indifferent zu zeigen, was ist. Das ist der Grund ihrer medialen Schamlosigkeit - nur Scham war nie ihre Domäne. Wo ein Fotoapparat ist, ist auch ein Wille zur Fotografie. Schauen wir auf die sogenannten sozialen Medien, dann wird klar, dass wir es mit einer ungeheuren Wucherung von Bildern zu tun haben, gegenüber der jede historisch frühere mediale Verbreitung von Fotos ein Witz war. Der offensichtliche Effekt, der damit erzielt wird, besteht darin, der moralischen Indifferenz der Fotografie Vorschub zu leisten. Wer innerhalb einer Minute von Bildern (oder Videos) einer Hinrichtung zu drolligen Katzen, neuesten Kochrezepten und anschließend zum krassesten Fußballfoul „switschen“ kann, dem bleibt keine Luft mehr für Moral, die stets der Weile der Reflexion bedarf.
 

Ich nehme von diesen Überlegungen den digitalen Konstruktivismus der sogenannten „künstlerischen“  Fotografie aus. Da diese ihre Objekte lediglich im Universum digitaler Versatzstücke findet, und sie daher einen großen Abstand zum Realen hat, hat sie auch keine moralischen Probleme. Diese gibt es nur mit Blick auf Akteure in der realen Welt und hinsichtlich der Frage, inwieweit deren bildliche Repräsentation legitim ist, nicht aber mit Blick auf Inszenierungen, denen es darum geht, Reales bloß zu simulieren. Dazu zählt auch das Portrait im weitesten Sinne. Ich halte es für absurd, der digitalen fotografischen Malerei einen moralischen Strick daraus zu drehen, dass sie digital konstruiert. Ethisch macht es einen gewaltigen Unterschied, ob wir über Fotos von Doisneau, Ronis oder Cartier-Bresson reden, oder über solche von Wall, Crewdson oder diCorcia. Letztere sind Konstruktivisten, die mit der Darstellung des Menschlichen spielen, die aber nicht auf der Straße oder sonstwo unterwegs sind, um Leute zu fotografieren. Falls doch, sammeln sie fotografische Versatzstücke, die sie später in der digitalen Konstruktion nutzen oder verfremden. Bei ihnen handelt es sich um eine Art Meta-Fotografie. Zweifellos haftet dieser Art Fotografie eine Asepsis an, die sich gewiss als unabhängig  von moralischen Fragestellungen sehen kann, aber was ist, wenn sie damit auch einer ästhetischen Sterilität Vorschub leistet, in der ihre Verspieltheit auf Kosten ihres darstellerischen Gehalts geht? Dies aber sind ästhetische, keine moralische Fragen und das zu differenzieren halte ich für unverzichtbar.